Liebe Leserinnen und Leser,

ein entspannter Sommer, oder? Die einen irren an Flughäfen umher und suchen ihre verschollenen Koffer oder Ersatz für ihre abgesagten Flüge, die anderen versuchen sich einen Reim auf das neue Infektionsschutzgesetz zu machen, viele grübeln, wie sie ihre exorbitant steigenden Strom- und Gasrechnungen begleichen sollen, und währenddessen läuft in Dauerschleife die mal mehr, mal weniger aufgeregte Diskussion über die Energieversorgung im nächsten Winter.

Shoppen bei Öl- und Gasscheichs mit ganz speziellen Auffassungen von Menschenrechten, Pop-up-Terminals für Flüssiggas und ein unverhoffter zweiter Frühling für die Kohle – so war das eigentlich nicht geplant. Falls Sie sich über den Schlamassel wegen der verfehlten Energiepolitik der letzten Jahrzehnte beschweren möchten: Bei Frau Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin a. D., sowie bei Herrn Peter Altmaier, Wirtschaftsminister a. D. (beide führten auch mal das Umweltministerium), wären Sie auf jeden Fall an der richtigen Adresse.

Natürlich gab es außer diesen beiden noch viele andere, die an alten Glaubenssätzen festhielten, etwa dass günstiges Gas aus Russland erstens unverzichtbar und zweitens auf immerdar verfügbar sei. Aber mitunter muss man alte Glaubenssätze (siehe Konrad Adenauers „Kinder kriegen die Leute immer“ oder Norbert Blüms „Die Rente ist sicher“) über Bord werfen.

Bis sich allerdings Bayern von dem ehernen Glaubenssatz verabschiedet, dass ihm eine Extrawurst unter allen Umständen zusteht, dürfte es noch etwas dauern. Der amtierende Ober-Bayer Markus Söder, CSU, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die amtierende Bundesregierung einem permanenten Stresstest zu unterziehen – seit ihm klar geworden ist, dass sich in seinem Bundesland eine unangenehme Stromlücke von zwölf Prozent auftun könnte, wenn Ende des Jahres das Atomkraftwerk Isar 2 wie geplant vom Netz ginge.

Nun ließe sich ja (Wind-)Strom aus dem Norden, zum Beispiel aus Schleswig-Holstein, nach Süden leiten – theoretisch. Leider steht aber nicht genügend Leitungskapazität zur Verfügung, denn bayerische Staatsregierungen haben sich schon zu Zeiten von Söders Vorgänger Horst Seehofer (was macht der eigentlich? Mit der Modelleisenbahn spielen?) gern heldenhaft gegen „Monstertrassen“ gewehrt, die nur die schöne Landschaft verschandelt hätten. Ebenso wie Windräder, die hier einen so großen Abstand zu Siedlungen haben müssen, dass deren Bau fast unmöglich wird. Im letzten Jahr wurden ganze acht errichtet.

Doch weil Angriff die beste Verteidigung ist, trommelt Söder seit Wochen für den verlängerten Betrieb zumindest von Isar 2, besser noch von allen drei noch laufenden Atommeilern, und am allerbesten nicht nur für ein paar Monate („Streckbetrieb“), sondern auf jeden Fall bis 2024. Einwände zu Personalengpässen, fehlendem Brennstoff, ungeklärten Haftungs- und Sicherheitsfragen lässt er nicht gelten.

Alles kein Problem, bestätigt auch der TÜV Süd, der schon seit 1958 im Auftrag der bayerischen Landesregierung kerntechnische Anlagen begutachtet. (Das hatte 2018 eine brasilianische Filiale des TÜV Süd auch dem Staudamm einer Erzmine nahe der Kleinstadt Brumadinho bescheinigt. Anfang 2019 barst der Damm. In der giftigen Schlammlawine verloren 270 Menschen ihr Leben.) Fachleute mögen das nun vorgelegte dreiseitige Papier auch gar nicht als „Gutachten“ bezeichnen – diese Anforderungen erfülle es nicht, hieß es aus dem Umweltministerium.

Inzwischen ist Söder schon wieder etwas Neues eingefallen: Fracking, wäre das nicht was? Nicht in Bayern, wo denken Sie hin. In Niedersachsen! Die Begeisterung beim niedersächsischen SPD-Ministerpräsidenten Stephan Weil hielt sich in Grenzen. Atommüll wollen sie in Bayern übrigens auch nicht haben; das Land eigne sich nicht als Standort, hieß es 2020, und so stehe es ja auch im Koalitionsvertrag zwischen CSU und Freien Wählern. Ach so, na dann.

Gäbe es den Begriff NIMBY („not in my back yard“ – das Sankt-Florians-Prinzip) nicht schon seit gut vierzig Jahren, für Söder hätte man ihn erfinden müssen. Es verspricht auf jeden Fall ein interessanter Herbst zu werden. Richard Mergner, Vorsitzender des BUND Naturschutz in Bayern, hat schon mal vorsorglich Klage gegen einen Weiterbetrieb von Isar 2 angekündigt. Die Liste der Argumente gegen eine Laufzeitverlängerung ist lang und die Risiken sind beträchtlich.

In letzter Zeit sind auch militärische Angriffe auf Atomanlagen wie Saporischschja in der Ukraine in den Fokus gerückt. Ein Blick nach Frankreich könnte sich ebenfalls lohnen: Dort ist derzeit nur die Hälfte der 56 Akw-Blöcke in Betrieb, der Rest wird entweder turnusmäßig gewartet oder musste wegen der Hitzewelle heruntergefahren werden, weil Flüsse ganz ausgetrocknet sind oder das wieder in diese eingeleitete Kühlwasser zu warm wäre. Das Land muss Strom importieren, unter anderem aus Deutschland. Die angeblichen Retter des Klimas werden Opfer desselben, wenn das nicht ziemlich irre ist.

Ein Sicherheitsrabatt nach dem Motto „Ach, die paar Monate – wird schon gutgehen“ ist keine Option, denn die Atomtechnologie, auch wenn sie im Lauf der Zeit immer wieder nachgerüstet wurde, ist nicht sehr geneigt, (menschliche) Fehler zu verzeihen. Probleme treten stets dort auf, wo sie niemand vermutet hätte. Unseren NIMBY-Mann wird das nicht scheren, er hat ja auch seine eigene Laufzeitverlängerung als Ministerpräsident im Auge, aber das Restrisiko bleibt, „jenes Risiko, das uns jeden Tag den Rest geben kann“, wie der sowjetische Atomphysiker Wladimir Tschernousenko zu sagen pflegte. Der wird gewusst haben, warum: Er leitete die Aufräumarbeiten nach der Katastrophe von Tschernobyl.

 

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin