Liebe Leserinnen und Leser,

ich kann in einer Woche wie dieser nicht einfach so tun, als sei nichts gewesen. Binnen weniger Tage erreichten uns schreckliche Bilder aus zwei nordafrikanischen Ländern, zwei Nachbarn Europas also: In Marokko und Libyen starben jeweils Tausende Menschen durch Katastrophen. In beiden Fällen ist das Leid der Überlebenden, die Freunde, Verwandte oder gar Kinder verloren haben, unermesslich. Und doch unterscheiden sich die beiden Ereignisse.

Denn wenn uns wieder einmal eine Katastrophenmeldung erreicht, stellt sich inzwischen unvermeidlich die Frage: Könnte die Erderhitzung – und damit der Mensch – bei der Entstehung des Unglücks eine Rolle gespielt haben? Bei Erdbeben wie in Marokko, genauso wie bei Vulkanausbrüchen oder Tsunamis durch Seebeben, ist der Fall klar: Es sind in all ihrer Monstrosität schlicht Naturkatastrophen. Menschen tragen allenfalls eine Mitschuld, wo Bausubstanz, Sicherheitsmaßnahmen oder Warnsysteme versagt haben. 

Bei wetterbedingten Katastrophen ist das heute anders: Die Wahrscheinlichkeit, dass der anthropogene Klimawandel die Entstehung eines Sturms, einer Hitzewelle, einer Dürre oder Überflutung ausgelöst oder sie verstärkt haben könnte, wird immer größer. Die World Weather Attribution Initiative liefert zu Extremwetterereignissen und klimabedingten Katastrophen seit einigen Jahren im Nachgang wissenschaftliche Analysen. Demnach ist die extreme Julihitze in Teilen Nordamerikas, Europas und Chinas infolge des Klimawandels „deutlich wahrscheinlicher“ geworden, und auch die Bedingungen, die zu Beginn des Sommers die großflächigen Waldbrände im Osten Kanadas begünstigt haben, treten nun mit „mehr als doppelt so großer Wahrscheinlichkeit“ auf.

Für das Sturmtief „Daniel“, das in der vergangenen Woche erst Griechenland Rekordregen brachte, dann übers Mittelmeer zog und schließlich auf katastrophale Weise das Bürgerkriegsland Libyen heimsuchte, gibt es eine solche Analyse noch nicht. Doch eine Verbindung zum Klimawandel ist auch hier wahrscheinlich: Forschende haben längst heftigere – nicht häufigere – Wirbelstürme über dem Mittelmeer im Zuge des Klimawandels prognostiziert. Ihre Energie und die enormen Wassermengen ziehen solche rotierenden Wettersysteme aus hohen Oberflächentemperaturen im Meer. Und tatsächlich hat sich das Mittelmeer im Sommer 2023 so stark aufgeheizt wie nie zuvor.

Natürlich spielte in Libyen, wo eine gigantische Flutwelle ganze Stadtviertel der Hafenstadt Derna hinwegspülte, auch der menschliche Faktor vor Ort eine Rolle. Dass die beiden oberhalb der Stadt gelegenen Staudämme, die die Wassermassen nicht zurückhalten konnten, nicht im besten Zustand waren, ist in einem zerrissenen und bitterarmen Land wie Libyen naheliegend.

Aber dass die Dämme schlagartig barsten, also bei einer bestimmten Wassermenge ihre Belastungsgrenze überschritten war, veranschaulicht eine bedeutende Tatsache: Am Ende kann eine kleine Menge den Ausschlag geben, ob es zur Katastrophe kommt oder nicht. Deshalb ist jede Ausrede, um konsequenten Klimaschutz auf die lange Bank zu schieben – sei es um ein Jahr, eine Legislaturperiode oder ein Jahrzehnt, grundfalsch. Der Klimawandel verursacht Katastrophen, schon heute.

Für viele Menschen ist das ein Grund, gar keine Nachrichten mehr zu schauen, ein menschlich verständlicher Impuls. Vor zwei Wochen fragten wir in der Wochenauslese: „Meiden Sie aufgrund der vielen Krisenmeldungen die Nachrichten?“ Immerhin 55,4 Prozent der Befragten gaben an, sich durch Katastrophenmeldungen nicht von ihrem Medienkonsum abhalten zu lassen. 34,4 Prozent weichen „manchmal“ aus und 10,2 Prozent unserer Leserinnen und Leser machen mittlerweile in der Tat dicht, wenn es um die nächste Krisenmeldung geht.

Wie die folgende zum Beispiel. Denn das Wort „Belastungsgrenze“ kam mir auch deshalb in den Sinn, weil ein internationales Forschungsteam im Fachblatt Science Advances gerade einen alarmierenden Bericht über den Zustand unseres Planeten veröffentlicht hat: Sechs von neun „planetaren Grenzen“, innerhalb derer der „sichere Handlungsraum der Menschheit“ liege, sind demnach bereits überschritten – darunter die Erderwärmung, die Versauerung der Ozeane sowie der Verbrauch von Süßwasser und Naturflächen. In fast allen von den Forschenden definierten Bereichen, die die Stabilität und Widerstandskraft des Erdsystems als Ganzes beeinflussen, hat sich die Lage seit dem letzten Bericht 2015 zugespitzt – mit Ausnahme des Ozonlochs, das sich etwas geschlossen hat. Immerhin ein Hoffnungsschimmer.

Aber nicht der einzige: Denn es gibt einige Nachrichten, die in diesen Tagen der Katastrophen beinahe untergehen. Fatih Birol, Chef der allen Ökoträumereien unverdächtigen internationalen Energieagentur IEA, verkündete diese Woche: „Wir erleben den Anfang vom Ende der Ära der fossilen Brennstoffe.“ Mit dem immer schnelleren weltweiten Ausbau von Wind- und Sonnenenergie sei ein „historischer Wendepunkt“ erreicht. Er erwartet zukünftig, dass sich Investitionen in fossile Energieträger in naher Zukunft ökonomisch einfach nicht mehr rechnen würden, weil deren Erschließung gegenüber Wind- und Solarkraft absurd teuer werden wird. Das mögliche Erreichen von „Belastungsgrenzen“, aber diesmal für das fossil gebundene Kapital – was für ein versöhnlicher Gedanke zum Start in ein hoffentlich sonniges Wochenende! Und der geeignete Auftakt zu unserer neuen Umfrage. Wir möchten von Ihnen wissen: Sollte es in Deutschland eine Solarpflicht für Dächer geben?

Bitte antworten Sie hier. Das Ergebnis verraten wir Ihnen kommende Woche!

Wenn Sie mögen, leiten Sie diese Wochenauslese gerne weiter. Abonnieren können Sie sie übrigens hier. Wenn Sie auch gerne unsere Presseschau zu Umwelt- und Klimaschutzthemen zugeschickt bekommen wollen, sollten Sie sich hier dafür eintragen – dann halten wir Sie montags bis freitags auf dem Laufenden. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!

Unterschrift

Wolfgang Hassenstein
Redakteur