Die meisten sehen sich nach ihr, der puren, rauen Wildnis. Und einige begeben sich auf eine Expedition in die Einsamkeit. Wir haben mit ihnen gesprochen. Vom Biologen bis zur Dichterin, in der Ausgabe 2.22 erzählen vier Menschen von ihrem Leben in der Natur

Ich fühle mich in der Wüste nicht mehr fremd.
Thilo Beck
© Mareike Dirnberger<p>Thilo Beck aus Darmstadt erforscht in der südafrikanischen Kalahari eine der giftigsten Schlangen der Welt</p>
© Mareike Dirnberger

Thilo Beck aus Darmstadt erforscht in der südafrikanischen Kalahari eine der giftigsten Schlangen der Welt

Zuerst muss ich die Kapkobra am Kopf packen. Je näher ich ihr mit meinem Greifstab komme, desto nervöser wird sie. Wie eine geladene Waffe hebt sie ihr Haupt. Dabei achte ich nicht nur auf jedes Zucken des so eleganten wie tödlichen Tieres, sondern auch auf jedes Rascheln um mich herum – es könnten noch mehr Gefahren in der Nähe lauern. In der Hitze ist es nicht leicht, die Nerven zu behalten, das Adrenalin schießt in den Kopf. Ein Gegengift ist schwer aufzutreiben, das Krankenhaus ist zwei Stunden entfernt. Läuft es schlecht, bleibt nur Zeit für eine letzte Sprachnachricht. Als ich meine erste Kobra gefangen hatte, war ich urlaubsreif. Heute, nach drei Jahren, habe ich Routine und trage dabei sogar Shorts.

Einmal blickte ich in die Augen eines Leoparden, der im Baum saß. Er sprang herunter, musterte mich und rannte davon. Wilde Tiere nah zu wissen, schärft meine Sinne. Tauchen nachts Hyänen auf, überlege ich mir den Gang zum Plumpsklo zweimal.

Ich erforsche die Kapkobra nicht, weil ich den Kick suche. Sie spielt eine wichtige Rolle im Ökosystem, das sich durch den Klimawandel verändert. Denn auf den Bäumen leben in riesigen Nestern Hunderte Webervögel. Die Kobras klettern hinein und fressen einen Großteil ihrer Brut – ein All-you-can-eat-Buffet. Wird es heißer und trockener, jagen die Schlangen seltener, die Küken überleben und es gibt viel mehr Vögel. Um diese Veränderungen zu erforschen, stehe ich mit der Sonne auf, packe Fernglas und Funkgerät ein, stapfe stundenlang durch roten Sand, hohes Gras und Gestrüpp, untersuche die Nester und orte bereits besenderte Kobras.

Als die Pandemie ausbrach, blieb ich in der Wüste, allein. Einmal im Monat wurden mir Lebensmittel gebracht. Unterwegs denke ich viel nach, nichts lenkt ab. Als ich mich von meiner Freundin trennte, konnte ich das hier ausführlich reflektieren. Die Einsamkeit in der Wildnis hilft. Fremd fühle ich mich in der Wüste nicht mehr – ich bin Teil von ihr.

Denke ich an Trischen, spüre ich Wehmut
Anne de Walmont
© Mareike Timm<p>Die Ornithologin Anne de Walmont hat sieben Monate allein auf der Nordseeinsel Trischen verbracht, als Vogelwartin des Nabu</p>
© Mareike Timm

Die Ornithologin Anne de Walmont hat sieben Monate allein auf der Nordseeinsel Trischen verbracht, als Vogelwartin des Nabu

Schon auf der Überfahrt fiel alles von mir ab. Mein Bremer Alltag hatte mich wuselig gemacht, jetzt atmete ich tief durch. Als das Boot wieder ablegte und ich mit meinem Karren am Strand stand, zögerte ich kurz: Worauf hast du dich da eingelassen? Weit raus hatte es mich gezogen, ich wollte Vögel dort beobachten, wo die Natur sich frei entwickeln kann.  

Trischen ändert ständig seine Form, meist ähnelt die Insel einer Mondsichel mit großer Nase, im Westen die weißen Dünen, im Osten die je nach Jahreszeit rot bis grün leuchtende Salzwiese. Ohne Damm und Deich, ohne Wellenbrecher, treiben Meer und Wind das Sediment vor sich her, bis zu dreißig Meter im Jahr. Manche sagen, Trischen sei eine der schnellsten Inseln der Welt. An menschliche Gewalt erinnert nur die Bohrinsel „Mittelplate A“ am Horizont, die sich mitten im Nationalpark erhebt.  

Als Vogelwartin wohnte ich in einer Hütte, meterhoch auf Stelzen thronend, die je nach Wetter auch mal im Wasser standen. Um mich herum Stille, knarzende Balken, die Vögel, das Rauschen der Gräser, die leise brechenden Wellen, der Wind. Ich liebte meine 15 spartanischen Quadratmeter: Bett, Küche, Schreibtisch, Werkstatt. Meine Dusche war das Meer.  

Mein Job: beobachten und kartieren. Morgens um fünf bei Sonnenaufgang, den Kaffee noch in der Hand, erfasste ich die Zugvögel, notierte Zahlen und Flugrichtungen. Tagsüber schulterte ich das Spektiv, also mein Fernrohr, lief barfuß über den Strand, klickte mit meiner Zähluhr die Rastvögel: zehn, zwanzig, dreißig Knutts, Pfeifenten, Brachvögel. Ich erblickte seltene Gäste wie Skuas – das sind große Raubmöwen, unglaublich beeindruckend.  

Die riesigen Vogelschwärme, Stürme und Fluten lehrten mich, wie ausgeliefert ich Natur und Landschaft bin. Wie das alles geschieht, ohne dass ich etwas ausrichten kann. Das macht ehrfürchtig. Ängstlich oder einsam fühlte ich mich nie, ich kann gut allein sein. Vermisst habe ich nur Eiskaffee. Ab und zu legte Axel an, der Mann mit dem Versorgungsboot, und wir tranken ein Bier an Bord der „Luise“. Heute, in der Hektik der Stadt, schließe ich die Augen, denke mich wieder nach Trischen. Und spüre Wehmut.

Wildnis ist das große Ganze
Dirk Steffens
© obs/ZDF/ Ingo Vollmer<p>Für das ZDF bereist Dirk Steffens Wildnisgebiete in der ganzen Welt und erzählt in Sendungen wie „Terra X“ von seinen Erlebnissen</p>
© obs/ZDF/ Ingo Vollmer

Für das ZDF bereist Dirk Steffens Wildnisgebiete in der ganzen Welt und erzählt in Sendungen wie „Terra X“ von seinen Erlebnissen

Von all den Wildniszonen der Erde, in denen ich war, hat mich die Antarktis besonders beeindruckt: Einen Kontinent zu besuchen, auf dem so gut wie keine Menschen leben und wo es weder Straßen noch Städte gibt, das hat mir ein Gefühl der Demut vermittelt. Und ein bisschen mehr Demut würde uns Menschen ganz bestimmt guttun.
 Wildnis ist das große Ganze, nur leider fühlen wir das nicht mehr. Ich bin mal mit einigen Baka in Zentralafrika durch den Dschungel gelaufen, um Flachlandgorillas zu suchen. Was diese Menschen dort riechen, schmecken, fühlen, wie sie den Wald nicht nur lesen, sondern geradezu empfinden, ihn verstehen, ohne ihn erklären zu wollen oder vielleicht auch zu können – das hat mich schwer beeindruckt und verunsichert. Sie haben sich in diesem Dschungel, in dem ich mich ohne Hilfsmittel nach fünf Metern verirren würde, mit instinktiver Sicherheit bewegt. Als würde die Wildnis zu ihnen sprechen. Ich nehme an, alle Tiere und also auch wir Menschen haben diese intuitive Fähigkeit, Natur zu verstehen, im Erbgut angelegt. Bei Leuten wie mir, die ihr ganzes Leben in der modernen Zivilisation verbringen, scheinen diese Instinkte aber verschüttet zu sein. Das macht unser Leben ganz bestimmt ärmer, wir fühlen das große Ganze nicht mehr, sondern müssen es uns mühsam mit dem Verstand neu erschließen. Insofern bin ich in der Wildnis fremd und das ist schade.
Dort sortiert sich ganz allein, was wichtig und was unwichtig ist. Man kann fühlen, mit was für einem Unsinn wir uns im Alltag rumärgern. Die Farbe eines Couchbezuges oder die Leistungsfähigkeit eines Milchschäumers haben nur dann Bedeutung, wenn man nichts Bedeutendes zu entscheiden hat. Das kann jeder Mensch am eigenen Leib erfahren: Einfach mal einen Rucksack packen, in die Wildnis wandern und eine Woche lang nur von dem leben, was man bei sich trägt. Da ist Überflüssiges dann nicht nur überflüssig, sondern hinderlich, vielleicht sogar gefährlich. Diese Erfahrung erdet. Reichtum und Statussymbole verlieren da jede Bedeutung. Und man fühlt sich ein bisschen wie die Tiere, denen man begegnet, weil jeder Tag mit wirklich existenziellen Fragen ausgefüllt ist: Habe ich genug zu essen? Bin ich in Gefahr? Wo muss ich hin? Der ganze Rest spielt keine Rolle mehr. Das ist intensiv und befreiend.
 Wer die Natur nicht erlebt, kann sie auch nicht empfinden. David Attenborough hat mal sinngemäß gesagt: Wer beim Gesang eines Vogels etwas empfindet, weiß, was Naturliebe ist. Wer nichts empfindet, dem kann man es auch nicht erklären. Die emotionale Entkopplung von der Natur ist sicher einer der Gründe für den ökologischen Schlamassel, in dem wir stecken. Wir fühlen nicht, was richtig und was falsch ist. Vielleicht, hoffentlich, würde sich das ändern, wenn mehr Menschen Natur und Wildnis selbst erfahren könnten.

Wildnis ist so verheerend wie schön
Daniela Danz
© Nora Klein<p>Ihre Zeilen wuchern und ranken wild: Die Dichterin Daniela Danz bringt Naturgewalt in Versform und gewann dafür den deutschen Preis für Nature Writing</p>
© Nora Klein

Ihre Zeilen wuchern und ranken wild: Die Dichterin Daniela Danz bringt Naturgewalt in Versform und gewann dafür den deutschen Preis für Nature Writing

Manchmal fallen meine Zeilen wie Wasserkaskaden, brechen wie ein Keimling durch Mauerwerk, legen sich wie Gesteinsschichten übereinander oder rutschen wie Schlammlawinen davon. Fürs Schreiben suche ich Formen, Strukturen oder Spuren, die Natur in der Zivilisation hinterlässt. In einem Gedicht lasse ich die Wildnis als junge Frau durch die Stadt Beresniki im Nordural laufen. Sie wurde 1932 nur für den Kalibergbau gegründet. Durch den Raubbau tun sich Krater in der Stadt auf, Häuser und Autos versinken darin. Rostige Industrieanlagen werden überwuchert, verlassene Gebäude zerfallen. Jederzeit könnten sich neue Löcher auftun, doch die Menschen brauchen den Dünger – das, wovon sie leben, vernichtet sie auch. Echte Wildnis habe ich im Naturreservat Stuica erlebt, einem karpatischen Buchenurwald an der Grenze zwischen Polen, der Slowakei und der Ukraine. So wie dort herrscht Natur, wenn man sie lässt. Ein Dorf am Waldrand, das ich dort besuchte, kam mir vor wie ein verlorener Außenposten der EU, den übermächtigen Wald vor der Tür – ganz anders, als wenn wir hierzulande ein Wäldchen abstecken und uns über den Wolf aufregen.
Angeblich sehnen alle das Raue, Unverfügbare zurück. Ich frage mich, ob man das ernsthaft wollen kann. Und was die Menschen unter „Wildnis“ verstehen – oder ob sie eingehegte Natur meinen. Im
18. Jahrhundert zum Beispiel galt die Wildnis noch als existenziell bedrohlich, der Dichter Hölderlin war auf seinen Reisen zugleich fasziniert und fürchtete sie. Heute kann Wildnis uns in Deutschland nicht mehr gefährlich werden, außer als Virus oder Flutkatastrophe. Wildnis folgt keinen Regeln, bricht sich Bahn, ob uns das passt oder nicht. Sie schert sich nicht um Mülltrennung, Wachstumszwang oder das Internet der Dinge.
Wildnis wäre so verheerend wie schön, wenn es mehr von ihr gäbe. Sie ist Willkür: Einmal nicht aufgepasst, und man steht einem Bären gegenüber. Wildnis ist überall und nimmt überhand, wenn wir uns nicht kümmern, auch zwischenmenschlich. Man muss ordentlich Charakterpflege betreiben, sonst verwildert und verroht man.

Weitere Geschichten zur Wildnis in Deutschland finden Sie in der Ausgabe 2.22 „Wildnis Wagen“ des Greenpeace Magazins. Hier dreht sich im Schwerpunkt alles um den Konflikt zwischen der Sehnsucht nach rauer Schönheit und ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Denn Wildnis ist – mit ihren faszinierenden Mooren, üppigen Auen oder schroffen Bergen – die Lebensversicherung einer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt und damit auch Garantin unseres Überlebens. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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