In der Ausgabe 4.20 des Greenpeace Magazins „Unsere Chance“ gibt Bregman Hoffnung. Sein neues Buch hat das Zeug, unser Selbstbild zu revolutionieren: Die meisten Menschen seien „im Grunde gut“, belegt er furios – und erklärt, was das für unser Zusammenleben, die Arbeitswelt und die Bewältigung von Krisen bedeutet. Aber lesen Sie das Gespräch an dieser Stelle selbst

Herr Bregman, gute Nachrichten gelten nicht gerade als bestsellerverdächtig. Wie sind Sie darauf gekommen, ein Buch über das Gute im Menschen zu schreiben?

Es begann mit den Diskussionen über mein vorheriges Buch, „Utopien für Realisten“. Darin habe ich über Ideen berichtet, die zwar etwas verrückt erscheinen mögen, aber in Zukunft Realität werden könnten. All die Meilensteine in der menschlichen Zivilisation – das Ende der Sklaverei, die Demokratie, die Gleichberechtigung – waren schließlich einmal utopische Fantasien. Ich fragte mich, wie solche Umbrüche passieren, und interessierte mich besonders für die Idee, jedem Menschen einen monatlichen Betrag zu geben, mit dem er seine Grundbedürfnisse stillen kann, um so die Armut zu überwinden. Viele Leute lehnen das Konzept eines solchen Grundeinkommens ab, sie sagen, es werde die Menschen faul machen. Dabei gibt es zahlreiche Belege dafür, dass es funktioniert. Die Menschen nehmen neue Jobs an, gründen Unternehmen, es muss weniger Geld für die Gesundheitsvorsorge ausgegeben werden – eine Menge positive Ergebnisse. Dennoch stieß ich in Diskussionen immer wieder auf eine große Skepsis, die letztlich der Natur des Menschen galt. So begann ich, mich für die Frage zu interessieren, woher diese negative Sicht eigentlich kommt.

Und was haben Sie herausgefunden?

Das negative Menschenbild ist tief in unserer westlichen Kultur verwurzelt. Wissenschaftler sprechen von der Fassadentheorie: Die Zivilisation ist demnach nur eine dünne Fassade, hinter der in Krisensituationen, im Krieg etwa oder nach einer Naturkatastrophe, das wilde Tier hervorbricht. Diese Vorstellung geht bis auf die alten Griechen zurück, man findet sie bei den Kirchenvätern, bei den Philosophen der Aufklärung, und sie wirkt bis heute: Die Auffassung, dass der Mensch egoistisch ist, war das zentrale Dogma der neoliberalen Ära, wir haben unsere Märkte, unsere Schulen und Institutionen um die Werte von Individualismus und Wettbewerb gestaltet. Doch dann entdeckte ich, dass die Wissenschaft in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren ganz andere Erkenntnisse gewonnen hat. Forscher ganz unterschiedlicher Disziplinen – Anthropologen, Archäologen, Soziologen, Psychologen – haben inzwischen eine viel hoffnungsvollere Sicht auf die menschliche Natur. Die Entwicklung ist so neu, dass diese Wissenschaftler oft nicht einmal voneinander wussten. Als ich das feststellte, beschloss ich, ein Buch darüber zu schreiben – ich musste nur die Punkte verbinden.

Ist denn die menschliche Geschichte nicht eine endlose Abfolge von Krieg und Gewalt?

Es ist eines der Paradoxe unserer Spezies, dass wir die freundlichste Art im Tierreich sind und zugleich die grausamste. Blicken wir zunächst auf unsere freundlichen Anteile. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte haben wir als nomadische Jäger und Sammler gelebt, mehr als 200.000 Jahre, 95 Prozent unserer Existenz. In dieser Zeit wirkte ein Prinzip, das Biologen neuerdings „Survival of the Friendliest“ nennen: Die Freundlichsten unter uns hatten im Schnitt mehr Kinder und damit die größeren Chancen, ihre Gene weiterzugeben – es ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was wir in der Schule gelernt haben. Tatsächlich lebten die Jäger und Sammler insgesamt in einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Und was die Gewalt angeht, hieß es lange, die prähistorische Zeit sei stark von ihr geprägt gewesen, der britische Philosoph Thomas Hobbes sprach vom „Krieg aller gegen alle“. Doch als ich begann, mich in die Literatur von Anthropologen und Archäologen zu vertiefen, entdeckte ich, dass an dieser Vorstellung nicht viel dran ist. Wären die Menschen damals wirklich so gewalttätig gewesen, dann würde man zum Beispiel entsprechende Höhlenmalereien erwarten. Aber solche Malereien wurden nie gefunden.

Was lief nach der prähistorischen Idylle schief?

Seit rund 10.000 Jahren haben wir ein Desaster, das man Zivilisation nennt. Als wir uns niederließen und begannen, Landwirtschaft zu betreiben, als wir Städte bauten, den Besitz und das Geld erfanden, all diese Dinge, die wir Meilensteine der Zivilisation nennen, ging es für die meisten Menschen bergab. Ich stimme da weitgehend mit dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau überein, der sagte, dass der Mensch von Natur aus gut ist und durch die Zivilisation korrumpiert wurde. Natürlich würde ich deshalb nicht vorschlagen, zum „Naturzustand“ zurückzukehren. Vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten haben wir gewaltige Fortschritte gemacht, wir sind heute wohlhabender und gesünder als je zuvor. Die Frage ist aber, wie nachhaltig unser Wohlstand ist angesichts dessen, was wir der Erde und den anderen Arten antun.

In Krisensituationen handeln die meisten Menschen vernünftig, sagen Sie.

Interessanterweise drehen die Medien nach Naturkatastrophen jedes Mal durch und sind voll von Berichten über Plünderungen und Gewalt. Wiederum ist die Botschaft, dass Menschen in der Krise zu ihrem schlechten Selbst zurückkehren. Doch wir haben inzwischen rund 700 Fallstudien aus der ganzen Welt, in denen untersucht wurde, was nach Naturkatastrophen wirklich geschieht, und das genaue Gegenteil ist richtig: Es gibt in solchen Situationen eine Explosion von Altruismus und Kooperation. Junge und Alte, Arme und Reiche, Rechte und Linke, alle arbeiten zusammen und helfen einander – es ist, als würden Krisen den Reset-Knopf in unserem Gehirn drücken und uns zu unserem wahren, besseren Ich zurückführen. Die Coronakrise ist nun ein großer Test. Und ich beobachte, dass die meisten Menschen sich tatsächlich ruhig und solidarisch verhalten und den starken Drang haben, bei der Bewältigung mitzuhelfen.

In der Krise steigen die Zustimmungswerte vieler Regierungen. Doch Sie zeigen sich skeptisch gegenüber den Mächtigen, auch in Demokratien.

Natürlich ist das, was wir jetzt haben, viel besser als eine Diktatur. Aber Demokratie heißt eigentlich „vom Volk regiert“ – und das ist nicht das, was wir haben, oder? Wir leben vielmehr in einer Art gewählter Aristokratie, in der wir diejenigen, die uns regieren, alle vier Jahre bestimmen dürfen. Ich würde eine echte Demokratie bevorzugen, in der auch durchschnittliche Zivilisten irgendwann in ihrem Leben Politiker werden – vielleicht per Los bestimmt. Es gäbe viele Wege, wie wir unsere Demokratien stärken könnten. 

Sind denn nicht die meisten alternativen Demokratieansätze am Ende gescheitert?

Zahlreiche Experimente sind erfolgreich – etwa in der brasilianischen Stadt Porto Alegre, wo die Menschen schon seit Ende der Achtzigerjahre einen großen Teil des Haushaltes selbst gestalten und entscheiden, wofür das Geld ausgegeben wird. Inzwischen gibt es rund 1500 Städte rund um den Globus, die partizipative Haushalte eingeführt haben. Allerdings zeigen die Medien wenig Interesse an solchen Initiativen, die oft eher langweilig aussehen. Ganz unterschiedliche Leute sitzen um einen Tisch, trinken Kaffee und führen sachliche Gespräche, um Kompromisse zu schließen. Das ist sehr schlecht für die Einschaltquoten – aber es ist gut für die Demokratie. Ich finde, es ist eine der aufregendsten Bewegungen unserer Zeit, wir sollten ihr viel mehr Aufmerksamkeit schenken, sie beleben und erweitern.

RUTGER BREGMAN
Der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman, 32, gilt als einer der wichtigsten jungen Denker Europas. Sein Buch „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ ist bei Rowohlt erschienen

RUTGER BREGMAN
Der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman, 32, gilt als einer der wichtigsten jungen Denker Europas. Sein Buch „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ ist bei Rowohlt erschienen

Und das funktioniert auch in der Wirtschaft?

Natürlich. Viele Unternehmen praktizieren es bereits seit den Achtzigerjahren – ich beschreibe nur, was ich sehe. In meinem Heimatland, den Niederlanden, gibt es ein Pflegeunternehmen namens Buurtzorg, Nachbarschaftsbetreuung, das einen solchen Weg sehr erfolgreich geht. Dort arbeiten 15.000 Menschen, die häusliche Pflege billiger und besser als die Konkurrenz anbieten. Wie machen sie das? Nun, im Grunde haben sie das gesamte Management abgeschafft. Es sind alles selbstverwaltete Teams von zwölf bis dreißig Krankenschwestern und -pflegern, die ihre eigenen Arbeitspläne erstellen, die selbst darüber entscheiden, welche Fortbildungen sie machen, welche Kollegen sie anstellen und so weiter. Klienten wie Angestellte sind zufriedener, die Bezahlung ist besser – eine Win-win-win-Situation. 

Was ist mit dem viel beschworenen Homo oeconomicus, dem selbstsüchtigen Menschen?

Seit Jahrzehnten haben Wirtschaftswissenschaftler eine ganze Kathedrale von Theorien auf der Annahme gebaut, dass wir alle schlicht kalkulierende Roboter sind, die stets so viel wie möglich für sich selbst herausholen möchten. Erst um das Jahr 2000 haben Forscher um den Anthropologen Joseph Henrich genauer untersucht, ob es den Homo oeconomicus wirklich gibt. Sie sahen sich Jäger und Sammler an, Bauern und Stadtbewohner rund um den Globus, konnten aber niemanden finden, der sich so egoistisch verhielt, wie es die Theorie besagte. Schließlich fanden sie doch ein Wesen, das zum Modell des Homo oeconomicus passte – es war aber kein Mensch, sondern ein Schimpanse. 

In Ihrem Buch zerpflücken Sie auch die Lehrmeinung von der „Tragik der Allmende“.

Diese Idee wurde in den Sechzigerjahren durch einen Artikel des Ökologen Garrett Hardin im Science-Journal bekannt. Sie besagt, dass man Dinge nicht kollektiv managen kann, weil alles, was niemandem gehört, ausgebeutet wird – eine Weide etwa, die für alle offen ist, sodass alle Bauern ihre Schafe und Rinder darauftreiben und bald alles Gras aufgefressen ist. Deshalb brauche man eine Aufsicht, die Regierung müsse eingreifen oder das Land aufgeteilt und in Privateigentum umgewandelt werden. Klingt plausibel, der Artikel wird noch heute oft zitiert. Aber dann kam Elinor Ostrom, die 2009 als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis erhielt – sie hat die Sache einfach nicht gekauft. Es könne schon manchmal passieren, dass Allmenden durch egoistisches Handeln zerstört werden, aber es sei nicht die Regel, dachte sie, denn Menschen können sprechen, sie können Dinge kollektiv organisieren. Deshalb hat sie angefangen, eine Datenbank aufzubauen mit mehr als 5000 Beispielen aus aller Welt, wo Bauern, Fischer und Bürger Allmenden erfogreich organisiert haben – von Gemeinschaftsweiden in der Schweiz über geteilte Äcker in Japan bis zu Bewässerungsgemeinschaften auf den Philippinen.

<p>STREITBARER MENSCHENFREUND <br />
Rutger Bregman wurde 2019 bekannt, als er in Davos die Steuervermeidung der Reichen anprangerte</p>

STREITBARER MENSCHENFREUND 
Rutger Bregman wurde 2019 bekannt, als er in Davos die Steuervermeidung der Reichen anprangerte

Besonders deutlich zeigt sich die Tragik der Allmende in der Fischerei. In überschaubaren Seen mag die nachhaltige Bewirtschaftung noch funktionieren, doch die Meere sind überfischt.

Das ist richtig. Es ist natürlich einfacher, Allmenden im Kleinen zu managen, im eigenen Haushalt etwa, wo man sagen kann: Du bist mit Abwaschen dran. Dort blickt man sich ins Gesicht. Es wird viel schwieriger, wenn man die Dinge hochskaliert.

Die Atmosphäre ist das beste Beispiel.

Genau. Sie gehört niemandem, deshalb kann jeder CO2 darin deponieren, und das Ergebnis ist die Tragödie des Klimawandels, der die Zivilisation bedroht. Doch wir sollten uns ansehen, was die Welt, was gerade Europa auf diesem Gebiet in nur wenigen Jahren für Fortschritte gemacht hat. Blicken wir noch mal aufs Jahr 2015. Beinahe 200 Länder haben in Paris zugestimmt, ihre CO2-Emissionen zu begrenzen. So viele Sprachen, so viele Kulturen. Menschen können verhandeln, können Kompromisse schließen. Wissenschaftler aus der ganzen Welt arbeiten zusammen. Die Fähigkeit zur Kooperation ist eine Superkraft.

Trotzdem sind die Emissionen zuletzt immer weiter gestiegen. In Deutschland haben die Leute mehr spritschluckende SUVs gekauft denn je.

Natürlich weiß ich, dass wir noch weit von dem entfernt sind, was notwendig wäre – und sicher ist Corona auch deshalb eine Katastrophe, weil sich nun viele wichtige Projekte verzögern. Aber ich glaube, die unter Umweltschützern verbreitete Neigung, die Menschheit als eine Plage zu sehen, als lauter unverbesserliche Egoisten, führt uns nicht weiter. Wie willst du mit einer solchen Sicht die Welt verändern? Ich glaube, es ist eine gute Idee, mit Vertrauen zu beginnen – mit der Annahme, dass die meisten Menschen ihr Bestes tun wollen, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. 

Glauben Sie wirklich, dass sich durch die aktuelle Krise die Dinge zum Guten wenden könnten?

Prognosen sind natürlich immer schwierig – vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, wie es so schön heißt. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass die Coronakrise zu einem düsteren Ergebnis führen wird. Einige Regierungen greifen nach mehr Macht – schauen Sie sich an, was in Ungarn passiert oder in den USA. Aber es gibt auch die Option eines echten Wandels. Ich würde es so sagen: Vierzig Jahre lang haben wir in der neoliberalen Ära gelebt, deren zentrales Dogma war, dass Menschen egoistisch sind. Ich glaube, dass diese Krise ein Wendepunkt sein und eine neue Ära einleiten könnte, die von anderen Werten regiert wird, von Kooperation und Solidarität.

Welche Anzeichen sehen Sie dafür?

Zum Beispiel werden plötzlich Ideen in Betracht gezogen, die noch vor fünf Jahren als abwegig galten. Kürzlich las ich fasziniert ein Editorial der Financial Times, der größten Wirtschaftszeitung der Welt. Es verlangte angesichts der Krise radikale Reformen – auch zuvor als exzentrisch angesehene Ideen wie Vermögenssteuern und das Grundeinkommen gehörten nun auf den Tisch. Es ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Wandel sich von den Rändern in die Mitte bewegt.

In ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig direkter menschlicher Kontakt ist. Die meisten Soldaten zum Beispiel verfügen über eine tief sitzende Tötungshemmung – doch je weiter der Gegner entfernt ist, desto leichter fällt das Töten...

...mit dem Klimawandel verhält es sich ähnlich.

Nun scheint die Coronakrise Menschen und Nationen zu trennen. Grenzen wurden geschlossen, Reisen verboten, Konferenzen abgesagt. Fürchten Sie, dass die Krise die Fortschritte beschädigen könnte, die darauf beruhen, dass die Menschen einander nähergekommen sind?

Interessanterweise geht die Entwicklung in beide Richtungen. Auf der einen Seite gibt es die Gefahr der Isolation. Wir sollten sehr aufmerksam sein hinsichtlich der Epidemie der Einsamkeit, die nun droht. Auf der anderen Seite sieht man zahlreiche Menschen, die sich mehr miteinander verbinden als sonst. Ich erlebe das in meiner eigenen Nachbarschaft. Manche Distanz scheint durch Videotelefonate und -konferenzen sogar zu schrumpfen. Klar ist, dass 2020 ein historisches Jahr sein wird. Es könnte uns in dunklere Zeiten führen, es könnte uns aber auch helfen, uns zu einer besseren Gesellschaft zu entwickeln. Es liegt an uns – wir schreiben unsere eigene Geschichte. Ein negatives Menschenbild ist dabei nicht förderlich. Hoffnung dagegen ist ein Aufruf, aktiv zu werden.

Weitere Geschichten, die Hoffnung geben, lesen Sie in der Ausgabe 4.20 „Zukunft Wirtschaft“: ein Heft voller Lösungen, wie Wirtschaft anders funktionieren kann – zum Wohle aller statt auf Kosten anderer. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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