Der Meeresspiegel hat eine Schwelle geknackt: Um zehn Zentimeter ist er seit  Beginn der Satellitenmessungen gestiegen. Wolfgang Hassenstein sorgt sich um Lebensbedingungen, die in der Erdgeschichte nie so gut waren wie jetzt

Heute früh im Radio berichtete der Moderator im Plauderton von den Klimaprotesten in Berlin, wo sich Aktivistinnen und Aktivisten mit Spezialkleber an Autobahnauffahrten festgeklebt hatten. Er frage sich, ob solche Aktionen „angemessen“ seien. Bei diesem Wort blieb ich hängen. Eine Zumutung, klar. Potenziell gefährlich und möglicherweise kontraproduktiv. Die Frage aber, ob die Protestform „angemessen“ sei, erschien mir angesichts der Lage des Planeten – irgendwie unangemessen.

Apropos messen: Das Messen physikalischer Größen ist eine zentrale wissenschaftliche Methode. Und bekanntlich sind die Folgen des verstärkten Treibhauseffekts, von schlauen Köpfen einst prognostiziert, längst messbar: Tausende Wetterstationen, Messbojen und Satelliten liefern täglich Millionen Daten, die die erwarteten planetarischen Veränderungen belegen. Auf der Website meereisportal.de kann man zum Beispiel „live“ verfolgen, wie das Packeis schwindet. Stärkere Wirbelstürme, schrumpfende Schneedecken, blockierte Großwetterlagen – alles wird gemessen.

Nebenstehend drucken wir in jeder Ausgabe drei klimabezogene Messwerte: Erstens die atmosphärische CO2-Konzentration, gemessen auf dem Mauna Loa auf Hawaii – sie steigt noch immer und ist der Kern allen Übels; die Ursachen sind hinreichend bekannt. Zweitens die Veränderung der globalen Temperatur: Sie hat sich infolge der steigenden Treibhausgaskonzentration gegenüber dem Vergleichszeitraum 1951 bis 1980 bereits um gut 0,9 Grad Celsius, seit Beginn der Industrialisierung schon um rund ein Grad erhöht. Und drittens, durch die Erwärmung bedingt: die Veränderung des Meeresspiegels. Die Zahlen mögen auf Dauer etwas langweilig werden (weshalb wir Sie auch nicht auf ewig damit belämmern wollen), letztere aber hat nun eine Grenze geknackt: Seit Beginn der präzisen Messungen per Satellit 1993 ist der Meeresspiegel um zehn Zentimeter gestiegen.

Zu dieser Zeit, Anfang der Neunziger, schrieb ich als Biologiestudent im Fach Meeresphysik eine Arbeit über „historische Meeresspiegelschwankungen“ – ein Aha-Erlebnis. Denn damals wurde mir anhand zweier Kurven bewusst, was für Glückspilze wir alle sind. Die erste betrifft die globale Temperatur, aus grönländischen Eisbohrkernen rekonstruiert: Sie hatte über Hundertausende Jahre geschwankt, beruhigte sich aber vor zehntausend Jahren auf wundersame Weise. Der Meeresspiegel stieg zunächst noch stark, pendelte sich dann aber nahe dem heutigen Niveau ein. Das „Holozän“ wurde zur wohl temperierten Komfortzone, in der die Menschen sesshaft wurden – und immer mehr.

Der zweite Glücksfall ist die „hypsografische Kurve“: Sie zeigt die Höhenverteilung der Erdoberfläche, die im Bereich über dem nun stabilen Meeresspiegel stark abgeflacht ist. Wir Menschen breiteten uns in dieser klimatisch günstigsten Höhenzone aus, besonders zahlreich in den wachsenden, fruchtbaren Flussdeltas von Nil, Mekong und Ganges. Weltweit liegen die meisten Millionenstädte am Meer.

Keine Frage: Menschen, die sich im Berufsverkehr auf Autobahnauffahrten festkleben, sind ein Ärgernis und stören die mobile Komfortzone. Aber ich frage mich, welche Protestform „angemessen“ sein könnte, um auf ein Problem dieser Größe aufmerksam zu machen: dass uns die Zeit davonläuft, um die kostbare klimatische Komfortzone der Menschheit zu retten.