In Nahverkehrszügen des Sommers 2022 ließ sich schon mal die Krisenfestigkeit des Landes erproben. Wolfgang Hassenstein hofft, dass beim großen Energiesparen alle mitmachen – auch die, die sich erstmal nicht angesprochen fühlen
Während der Hitzewelle, die im Juni weite Teile des Landes ereilte, wurde eine Recherchereise zu meinem schönsten 9 Euro Ticket Erlebnis. Eigentlich hatte ich eine gemütliche Fahrt im Regionalexpress durch Südniedersachsen erwartet, doch der Zug war rappelvoll und die Stimmung ausgelassen. Ich ergatterte einen Sitzplatz neben einer fünfköpfigen Familie inklusive Wickelkind, die, wie sich herausstellte, einen Onkel in München besuchen wollte, jedoch in einen Zug nach Norden geraten war. Der Vater tippte wild auf seinem Handy herum, bekam aber nur ICE-Verbindungen an gezeigt, für die das 9 EuroTicket nun mal nicht gilt.
Hinter uns stand eine Gruppe junger Hippiepunks mit Dreadlocks und Schottenröcken, in der ein Heuschnupfenspray herumgereicht wurde wie ein Joint und die offenbar schon länger unterwegs war. Es gelang mir, einen Kontakt herzustellen: Tipp, tipp, tipp, schon hatten die Punks über unsere Schultern hinweg auf der BahnApp des Familienvaters die Weichen richtig gestellt und es wurde eine Verbindung nach München mit siebenmaligem Umsteigen angezeigt. Es folgten angesichts der Fahrtdauer viele Tipps und aufmunternde Worte für die Familie.
Die Szene hatte Symbolcharakter. Die Mehrfachkrise, an deren Anfang wir wohl erst stehen, bringt Zumutungen mit sich, aber möglicherweise auch ein neues Gemeinschaftsgefühl und bisher erstaunlich wenig Gemecker, jedenfalls empfinde ich das so. Vielleicht, weil klar ist, wie absurd Meckern wäre angesichts der Lage in der Ukraine oder im hungernden Ostafrika. Es wird jetzt viel über Verantwortung gesprochen. Bundeswirtschaftsminister Habeck appelliert daran, Energie zu sparen, und gibt Ratschläge, wie sie einst im Greenpeace Magazin standen.

Einige mögen das als bevormundend empfinden. Aber in der Krise gilt: Wenn es hart auf hart kommt, müssen alle mitmachen. Nur: Verbockt haben es Politik und Konzerne. Hätten vergangene Bundesregierungen die Energie und Verkehrswende nicht aus ideologischer Verblendung und unter dem Druck von Lobbyisten so verschleppt, könnte der Anteil erneuerbarer Energien und sauberer Verkehrsmittel schon deutlich größer sein– und die Abhängigkeit von russischem Erdgas viel kleiner.
Nun werden voraussichtlich vor allem jene die Heizung runterdrehen, das Auto stehen lassen und in überfüllten Regionalzügen reisen, die sich die hohen Energiepreise schlicht nicht leisten können. Und jene Partei, die den Bundesverkehrsminister stellt, verhindert weiter die billigste EnergiesparSofortmaßnahme, das generelle Tempolimit. Muss man ein Schelm sein, um zu vermuten, dass viele ihrer Anhänger sich nun besonders darüber freuen, wenn die Autobahnen wegen hoher Spritpreise und dem Erfolg des 9 Euro Tickets tatsächlich etwas leerer sind als sonst?
Allerdings gäbe es eine Möglichkeit, auch Menschen, die ihren Fuß nie in einen Regionalexpress setzen würden, zum, nunja, „Mitmachen“ zu bewegen. Ein Team von Ökonomen, darunter Forscher des PotsdamInstituts für Klimafolgenforschung und der US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, hat errechnet, dass Steuern auf Kapitalerträge sehr reicher Menschen entgegen vieler Befürchtungen tatsächlich den allgemeinen Wohlstand mehren könnten – würde man die Einnahmen in Schulen, nachhaltige Energieversorgung und öffentliche Verkehrsmittel stecken. Ich finde, das klingt nach einer sehr guten Idee.