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Corona und Indigene in Brasilien: «Unser Volk stirbt» Von Martina Farmbauer, dpa

Das Coronavirus hat Brasilien fest im Griff. Besonders gefährlich ist die rasche Ausbreitung für die indigene Bevölkerung. Eine Vertreterin der Indigenen fürchtet gar, ganze Dörfer könnten verschwinden.

Manaus (dpa) - Vilmar Silva Matos, ein Anführer vom indigenen Volk der Yanomami, hat Angst. Er fürchtet, dass das Coronavirus immer näher kommt und die Alten krank werden. Sie sind es, die bei den Yanomami das Wissen um die Kultur und Tradition der Indigenen durch mündliche Überlieferung und Praxis weitergeben. «Wir haben Angst, unsere Alten zu verlieren, die wie unsere Enzyklopädien sind, unsere Geschichtenerzähler», sagt Vilmar zwischen Hängematten im Halbdunkel des Auffangzentrums von Ärzte ohne Grenzen in der Stadt São Gabriel da Cachoeira, tief im brasilianischen Amazonas-Gebiet.

Mindestens zwei Dutzend Häuptlinge und Medizinmänner sind seit Beginn der Pandemie schon im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Das Virus, vor dem Vilmar Silva Matos sich fürchtet, ist da. Weit weg von medizinischen Zentren und besonders anfällig für Krankheiten: Diese Kombination wurde angesichts der raschen Ausbreitung von Corona in Brasilien vielen Indigenen zum Verhängnis.

Der indigene Dachverband APIB bestätigte zuletzt insgesamt 22 656 Infizierte, 639 Todesfälle und 148 betroffene Völker. «Wenn wir von Völkermord sprechen, übertreiben wir nicht», sagt APIB-Koordinatorin Sônia Guajajara. «Unser Volk stirbt, und der brasilianische Staat gibt immer noch vor, etwas dagegen zu tun».

Insgesamt haben sich mehr als 2,8 Millionen Menschen in Brasilien mit dem Coronavirus infiziert, zum Welttag der Indigenen an diesem Sonntag könnte das Land die Marke von 100 000 Toten im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 durchbrochen haben.

São Gabriel da Cachoeira ist eine der indigensten Gemeinden Brasiliens, vielleicht der Welt. Mindestens 75 Prozent der rund 45 000 Bewohner sind Indigene. Der Ort ist Eingangstor zu einer Region, in der auf einer Fläche der Größe Englands mehr als 20 indigene Völker in 700 Dörfern leben. Aber São Gabriel gehört - in Abwesenheit des Staates - auch zu den im Verhältnis am meisten von Corona heimgesuchten Gemeinden Brasiliens.

In São Gabriel da Cachoeira, jenseits der Bundesstraße «Transamazônica», die die Atlantik- und Pazifikküste Südamerikas verbinden sollte, hoch im Nordwesten, wurden Corona-Tests zunächst nur im Stadtgebiet durchgeführt. Für die Indigenen in den Dörfern ist ein Spezialsekretariat zuständig, das zum Gesundheitsministerium gehört. «Es fehlten Massentests, um zu wissen, wie viele Indigene sich wirklich infiziert haben», sagt Marivelton Barroso, Präsident der Indigenen-Organisationen des Rio Negro (Foirn).

Die Foirn hat selbst Daten gesammelt und ein Krisenkomitee mit Ärzten, NGO und Aktivisten gegründet. São Gabriel da Cachoeira schottete sich ab, Nicht-Indigenen wurde der Zugang zu den Dörfern untersagt. Viele indigene Völker machten in der Vergangenheit traurige Erfahrungen mit Krankheiten der Weißen, wie Masern, Grippe oder Schnupfen. Heute sind es nicht mehr Kautschuk-Arbeiter, sondern illegale Holzfäller oder Goldsucher, die dem Regenwald seine Baum-Schätze nehmen und den Indigenen Krankheiten bringen. In der Gier nach dem Reichtum ihres Landes ähnele sich die Situation indigener Völker zwischen der Arktis und Amazonien, sagt Jonas Bermaoui von der «Gesellschaft für bedrohte Völker».

Auch über den Amazonas - Transportweg und Lebensader - verbreitete sich das Coronavirus unter der indigen Bevölkerung. Und Indigene selbst haben es aus den Städten mit in die Dörfer gebracht. Einmal bei den Indigenen angekommen, macht es auch aufgrund der gemeinschaftlichen Lebensweise, in deren Rahmen etwa mehrere Familienverbände zusammenwohnen, schnell die Runde. «Es gibt Dörfer, die verschwinden werden, wenn das Virus reinkommt», sagt Sônia Guajajara.

Zwar reisen Teams mit Personal des Spezialsekretariats zur medizinischen Versorgung in die Dörfer. Aber nicht immer ist ein Arzt dabei, und bisweilen geraten die Indigenen dadurch erst in Kontakt mit dem Virus. Das einzige Krankenhaus in São Gabriel da Cachoeira war wegen des Anstiegs der Corona-Fälle schnell überfüllt.

Intubierte Patienten aus São Gabriel und anderen entlegenen Orten müssen in die fast 1000 Kilometer entfernte Metropole Manaus gebracht werden, die als eine der wenigen im Bundesstaat Amazonas Intensivbetten unterhält. «Ich glaube, dass die meisten Leute, die sich für diesen Transport entscheiden, auf dem Weg sterben», sagt die deutschstämmige Krankenschwester Silene Kunrath aus Manaus.

Als die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen das Problem erkannte, baute sie in São Gabriel da Cachoeira ein Auffangzentrum für Patienten mit leichten und mittleren Symptomen. Caritas international stattet, unterstützt mit einer Million Euro vom Auswärtigen Amt, staatliche Gesundheitszentren mit Schutzausrüstung, medizinischem Gerät und Medikamenten sowie Corona-Tests aus.

Die kulturellen Unterschiede werden dabei berücksichtigt. So wurden in São Gabriel da Cachoeira etwa Hängematten angebracht und eine Begleitperson zugelassen, ohne die Indigene nicht bleiben würden. Medizinmänner dürfen zusätzlich zur klassischen Medizin der Weißen mit der traditionellen Medizin der Indigenen behandeln. Die Ureinwohner haben sich in der Corona-Krise auf ihre Tradition mit Pflanzen, Tees und Segnungen von Schamanen besonnen. Die Anführerin Milena Kokama, die wegen Covid-19 selbst ein Dutzend Familienangehörige verloren hat, sagt: «Wir haben keine Krankenhäuser in den Dörfern. Wir haben keine Atemgeräte, nicht mal Schnelltests. Wir haben keine Medikamente. Unser Medikament ist unsere Medizin.»

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