Die Buschbrände in Australien wirken wie ein globaler Klimaalarm, beobachtet Wolfgang Hassenstein. Noch vehementer fordern nun viele Menschen, das Spiel mit dem Feuer zu beenden

Was mir Sorgen macht: Kippende Ökosysteme

© Matthew Abbott/NYT/Redux/laifWÜTENDE FLAMMEN
In den Feuersbrünsten sterben Menschen und Tiere
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WÜTENDE FLAMMEN
In den Feuersbrünsten sterben Menschen und Tiere

Mir gehen die Bilder der Koalas nicht aus dem Kopf, die durchs australische Inferno irren. Die knuffigen Beuteltiere mit den arglosen Gesichtern als neue Symboltiere der Klimakrise? Sie sollten doch einfach nur Lieblingstiere sein – wie von meiner elfjährigen Tochter. Ich wusste anfangs gar nicht, wie ich ihr vom Drama am anderen Ende der Welt erzählen sollte.

Dann wurde ein globales Megathema daraus, es gab Berichte auf allen Kanälen. Meine 13-Jährige erzählte, sie habe in der Schule mit ihren Klassenkameradinnen spontan eine Schweigeminute für Australien eingelegt.

Mehr als eine Milliarde Wildtiere sollen in den Flammen schon gestorben sein, eine unvorstellbare Zahl. So eskalieren zwei globale Krisen zugleich – der Verlust der Biodiversität und die Erderhitzung. Und erschreckend schnell bestätigen sich die Prognosen der Wissenschaft.

„Hitzewellen beginnen früher, werden heißer, dauern länger und treten häufiger auf“, schrieb 2014 der australische Klimarat in seinem Bericht „Angry Summer“. Unter dem Eindruck des heißesten Jahres in der Geschichte des Landes warnten die Experten vor einer Zunahme von Buschfeuern, die Menschen, Artenvielfalt und Wirtschaft bedrohten. Um den Trend zu stoppen, seien „schnelle, tiefe Einschnitte bei den Emissionen“ nötig.

Doch fünf Jahre später ist Australien weiter von der Kohle abhängig, zu deren größten Exporteuren es zählt. Ich verfolge das Geschehen in dem Land, in dem ich nie war (und angesichts der Emissionen, die mit einem Besuch verbunden wären, wohl auch nie sein werde), seit Langem mit Sorge. Es ist zugleich ein Hotspot der Klimakrise – und der Ignoranz. Wie kann es sein, dass gerade dort ein Mann regiert, der vom Klimawandel nichts wissen will?

2019 war in Australien erneut das heißeste Jahr seit Beginn der Messungen. Die extreme Trockenheit ließ sogar Regenwälder in Flammen aufgehen. Die Brände wiederum verstärken den Treibhauseffekt: Rund 250 Millionen Tonnen CO2 setzten sie bis Jahresende frei, fast die Hälfte der Gesamtemissionen Australiens.

Führende Klimatologen, unter anderem vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, warnten jüngst im Fachblatt „Nature“ vor der wachsenden Gefahr abrupter und irreversibler Klimaveränderungen, vor „Kaskaden“ von Effekten, die sich gegenseitig verstärken. Kann es sein, dass wir gerade erleben, wie in Australien ein solcher Kipppunkt überschritten wird? 

Was mich hoffen lässt: Kippende Stimmungen

© picture alliance/Andreas Arnold/dpa<p>FLAMMENDE WUT<br />
Nicht nur in Australien treiben die Buschbrände Menschen auf die Straße – sondern auch in Mainz </p>
© picture alliance/Andreas Arnold/dpa

FLAMMENDE WUT
Nicht nur in Australien treiben die Buschbrände Menschen auf die Straße – sondern auch in Mainz 

Ich war überrascht, als ich das hässliche Wort mit „ppp“ das erste Mal außerhalb meiner Arbeit hörte: „Was hat es eigentlich mit diesen Kipppunkten auf sich?“, fragte mich im Dezember ein Nachbar auf der jährlichen Adventsfeier in unserem Haus. Die gefährlichsten Folgen des Klimawandels als Partythema. Kippt da was?

Zwanzig Jahre nachdem der Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber das Konzept der „tipping points“ in die wissenschaftliche Debatte einführte, sickert der Begriff ins öffentliche Bewusstsein. Und Forscher fragen sich inzwischen, ob das wachsende Wissen über die globalen Worst-Case-Szenarien auch einschneidende gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen kann. „Domino-Effekte im Erdsystem – die potenzielle Rolle erwünschter Kipppunkte“, überschrieben Potsdamer Klimatologen und Kölner Soziologen kürzlich einen Fachartikel zum Start eines gemeinsamen Forschungsprojekts, unter ihnen die Physikerin Ricarda Winkelmann. 

Nicht nur in der Natur komme es vor, dass Systeme von einem Zustand in einen völlig neuen kippen, argumentieren sie. Auch historische Umbrüche seien durch ein solches Kippen gekennzeichnet, ob sie nun plötzlich abliefen wie der Mauerfall 1989 oder Jahrzehnte dauerten wie der Kampf für Bürgerrechte in den USA. Sogar ferne Ereignisse können weitreichende Folgen haben: Der Reaktorunfall von Fukushima zum Beispiel hat das Ende der Atomkraft in Deutschland eingeleitet.

Erste Untersuchungen zeigen nun, dass auch das Wissen um Gefahren, die erst zukünftige Generationen betreffen – wie das womöglich bald irreversible Abschmelzen von Grönland und der Antarktis – die Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen verändern können. Die Kenntnis solcher Bedrohungen fördere nicht nur das eigene Engagement, sondern stärker noch die Bereitschaft, eine konsequente Klimaschutzpolitik zu unterstützen. Klingt nach Wunschdenken?

Noch vor Kurzem hätte ich das angesichts von SUV-Boom und weltweit weiterhin steigenden Emissionen wohl auch so gesehen. Wenn ich mir aber vor Augen führe, was alles passiert ist, seit – ganz unvorhergesehen – Greta Thunberg ihren „Skolstrejk“ begonnen hat, dann scheint es mir gar nicht mehr so abwegig, dass wir gerade alle zusammen erleben, wie die Weltgemeinschaft einen Kipppunkt überschreitet. Diesmal einen willkommenen.