Liebe Leserinnen und Leser,

an welches Geräusch werden wir uns wohl erinnern, wenn die Corona-Pandemie eines fernen Tages vorbei ist? Wird es das Rauschen von Blättern im Wind oder von Meereswellen sein? Das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen oder andere Tierlaute, die man sonst nie hören konnte? Vielleicht gar der Klang der Stille, die sich durch die Abwesenheit von Flug-, Auto- und Freizeitlärm über Stadt und Land legte? Oder, etwas profaner, das Klackern der Tastatur von PC oder Laptop?

Ich fürchte, es könnte auch das Rascheln, Knistern und Knacken von Plastik sein. Denn in diesen Zeiten drängt es sich wieder mehr in den Vordergrund, auch außerhalb von Krankenhäusern, wo der Schutz von Patienten und Personal den Einsatz von Ausrüstung, Gerätschaften und Vorrichtungen aus Kunststoff rechtfertigt. Aber anderswo treibt das Phänomen teilweise seltsame Blüten.

Vor allem im Lebensmittelbereich feierte Einwegplastik in letzter Zeit ein triumphales Comeback. Mitgebrachte Mehrwegbehältnisse für Lebensmittel oder Getränke galten plötzlich als böse Virenschleudern. Alles wurde in Folien gehüllt und in Wegwerfboxen gepackt, das Mittagessen fürs Homeoffice, der Snack für unterwegs, das Obst im Supermarkt. Acht US-Bundesstaaten hoben ihr Verbot für Einkaufstüten aus Plastik wieder auf, woran die Lobbyarbeit der Kunststoffindustrie nicht ganz unschuldig war – sogar die gute alte Einkaufstasche wurde an den Pranger gestellt. Auch in Europa vergaßen viele Menschen alles, was sie jemals über Plastikfasten gehört oder gelesen hatten.

Aber wie steht es denn nun um Hygiene und Ansteckungsgefahr? Expertinnen und Experten aus aller Welt verweisen in einer gemeinsamen Erklärung darauf, dass das Virus erstens hauptsächlich durch die Luft übertragen wird, sich zweitens auf Kunststoff ebenso wie auf Edelstahl zwei bis sechs Tage lang hält und dass es eine verblüffend einfache Lösung für die Hygienefrage gibt: Wasser und Seife bzw. Spül-, Reinigungs- oder schlimmstenfalls Desinfektionsmittel. Plastik bietet keinerlei Vorteil beim Gesundheitsschutz, sondern nur die altbekannten Nachteile: bergeweise leere Verpackungen im Müll, die meist nicht recycelt werden, sondern auf Deponien, in Verbrennungsanlagen oder im Meer landen.

Das Duale System Deutschland vermeldet, dank Homeoffice, geschlossener Kantinen und Restaurants sei die Menge an Plastikverpackungen im Hausmüll um zehn Prozent gestiegen. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Ölpreis seit Monaten die tiefsten Tiefen auslotet, will heißen: Die Herstellung von neuem Plastik aus Rohöl ist sensationell günstig, das vergleichsweise teure Recycling lohnt sich nicht. Einige Anlagen mussten bereits abgestellt werden oder arbeiten mit verminderter Leistung.

Preisfrage: Was tun, wenn Recyclingkunststoff bis zu 50 Prozent der Treibhausgasemissionen von neu produziertem Plastik einspart, also viel umweltfreundlicher, aber auch viel teurer ist als Letzteres? Zum Beispiel eine EU-weite Abgabe auf nicht recycelten Kunststoff einführen. Genau das haben die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen auf ihrem Sondergipfel zu EU-Haushalt und Corona-Wiederaufbauhilfen beschlossen. 80 Cent pro Kilogramm sollen es sein. Gute Idee. Hoffentlich haben sie alle Ohrstöpsel vorrätig, um das Wehklagen der Plastikindustrie auszublenden.

Aber es muss sein, damit die Prognose der Pew Charitable Trusts aus Philadelphia und des Londoner Thinktanks Systemics, Ltd. nicht eintrifft: dass sich nämlich der jährliche Eintrag von Plastik in die Meere bis 2040 verdreifachen könnte. Die langfristige und nachhaltige Lösung wäre natürlich der Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft. Helfen könnten auch Mindestquoten beim Recycling sowie nachhaltigere und langlebigere Kunststoffe. Denn eins ist klar, eine Welt ohne Plastik ist nach heutigem Wissensstand kaum denkbar.

Sie und ich reißen uns einstweilen schon mal kräftig am Riemen und versuchen uns plastikmäßig weiter einzuschränken. Nicht alle von uns können so fulminante und erfolgreiche Kampagnen starten wie die Schwestern Melati und Isabel Wijsen auf Bali, aber zwischen Ex-und-hopp-Mentalität und Heldentum an der Plastikfront ist ja reichlich Platz.

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin