Liebe Leserinnen und Leser,

nach drei Jahren Abwesenheit wegen Corona und anderen Kalamitäten haben wir meiner alten Heimat Sylt einen Besuch abgestattet. Sie hat sich, soweit man das feststellen kann, nicht vom Fleck bewegt. Sonne und Wind, Dünen und Wellen, Strandleben und Feriengäste: alles noch oder wieder da. Wie üblich viel Autoverkehr mit hohem SUV-Aufkommen, aber auch Hochbetrieb auf den Fahrradtrassen.

Häufig begegnet man Fahrrädern mit Anhängern, vornehmlich genutzt von Familien. Aber nicht Mama, Papa, Kind, sondern: Herrchen, Frauchen, Hundchen. Bello oder Fiffi lassen sich in ihrer mobilen Hundehütte umherkutschieren und zwischendurch sicher gern mit Hundeeis füttern. Erhältlich am Kampener Strand, in Geschmacksrichtungen wie Huhn, Rind oder Wildlachs, die Kugel für schlappe 3,50 Euro.

Auch Finanzminister Christian Lindner hat sich nicht lumpen lassen, so eine dreitägige Hochzeitssause auf Sylt gibt es ja nicht im Sonderangebot. Auf der Insel bleibt man bei Promi-Events aller Art, so auch bei diesem, aus alter Gewohnheit eher entspannt. Von Oppositionspolitikern in ihren fliegenden Kisten lässt sich hier auch niemand aus der Ruhe bringen. Eher schon vom verschärften Personalmangel. Restaurants müssen in der Hochsaison unfreiwillig Ruhetage einlegen oder gleich ganz schließen. Wohnraummangel, exorbitante Mieten, immer weiter steigende Lebenshaltungskosten – und die Pendelei in ewig verspäteten, ausfallenden und jetzt noch von 9-Euro-Reisenden überfüllten Zügen macht auch wenig Spaß. Wenn das so weitergehe mit den Arbeitskräften, entwickle sich Sylt in Richtung Disneyland, fürchtet ein Westerländer Unternehmer.

Für Aufregung sorgen auch die Punks, die derzeit recht zahlreich auf der Insel vertreten sind. Freie Zugfahrt für freie Bürger und Bürgerinnen. In Westerland tun sie das, was Punks eben tun, lärmen, trinken, schnorren, in Gruppen abhängen und eine gewisse Unordnung hinterlassen. Ansonsten sind Punks, auch wenn sie einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen können, im Großen und Ganzen vollkommen harmlos. Dafür verbürge ich mich, denn in einem meiner früheren Leben war ich eine Art assoziiertes Mitglied der Punkgemeinde.

Was Ressourcenverbrauch, Konsum und ökologischen Fußabdruck angeht, sind Punks übrigens – verglichen mit den meisten braven Bürgerinnen und Bürgern – geradezu vorbildlich, nur ihr Orientierungssinn lässt gelegentlich zu wünschen übrig (sie hatten sich selbst zur Lindner-Hochzeit eingeladen, spektakelten dann aber vor dem falschen Hotel).

Am anderen Ende des Spektrums hingegen erwirbt man für sieben, zehn oder zwölf Millionen, vielleicht auch mehr, ein Grundstück in Kampen, lässt das darauf befindliche noch nicht besonders alte Haus umgehend abreißen und baut ein neues, schöner (nun ja, das ist Geschmackssache), größer und mit der allertiefsten Tiefgarage. Ist das ganze Anwesen samt Außenanlage mit automatischer Bewässerung fertig, rückt eine Gartenbaufirma an, pflanzt Rasen und Rosen und bringt mit schwerem Gerät die Hecken in Kugelform. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Rosen und Kugelhecken, was anderes geht nicht. Disneyland eben.

Ziemlich viel Aufwand dafür, dass sich meist höchstens ein paar Wochen im Jahr jemand in so einem Luxusdomizil aufhält. Einen Tag nach unserer Abreise gab es, das 9-Euro Ticket machte es möglich, sogar eine linke Demo mit ein paar Hundert eigens Angereisten unter dem Motto: „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“. Stimmt schon, aber irgendetwas sagt mir, dass es in diesen Häusern, ob bewohnt oder unbewohnt, auch im kommenden Winter kuschelig warm sein und dass im kommenden Jahr unverdrossen weitergebaut werden wird. Energie und Ressourcen sparen? Hier eher nicht. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist in einer Kugelhecke verschwunden.

Gestern war übrigens, wie komme ich da jetzt drauf, Erdüberlastungstag, Earth Overshoot Day. Wenn Sie den Blick in einer klaren Nacht gen Himmel richten, erspähen Sie vielleicht irgendwo im Weltall die Dreiviertelerde, die wir noch extra bräuchten, weil unser kleiner Planet es nicht allein schafft, alles Verbrauchte wieder zu ersetzen. In den bis Jahresende verbleibenden 156 Tagen lebt die gesamte Weltbevölkerung auf Pump (Deutschland allein hatte diesen Punkt schon Anfang Mai erreicht). Höchste Zeit also für die Erdentlastungsschuldenbremse.

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin