Liebe Leserinnen und Leser,

in die Ferne schweifen – muss nicht sein. Die Neigung, viele Stunden in einer Schlange am Flughafen zu stehen, noch mehr Stunden in einer fliegenden Sardinenbüchse eingepfercht zu sein, vergebens auf das Gepäck zu warten und vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten wieder Schlange zu stehen, weil Abermillionen ein Foto für Instagram machen müssen, hat sich längst verflüchtigt. Davon abgesehen ist die Gesundheit streng und verbietet es.

Obwohl es, zugegeben, das eine oder andere Ziel mit magischem Klang gäbe. Zum Beispiel Timbuktu, jene sagenhafte Wüstenstadt mit ihren kunstvollen Lehmbauten. Vielleicht hat das angefangen, als ich das erste Mal voller Verblüffung las, dass Timbuktu mit seiner im Jahr 989 gegründeten Universität, die zu den ältesten der Welt zählt, einst ein Zentrum von Kultur und Wissenschaft war. Während ihrer Blütezeit im 15. und 16. Jahrhundert wurden dort neben islamischer Theologie auch Mathematik, Geografie, Astronomie, Medizin und Geschichte gelehrt.

Außerdem war Timbuktu ein Knotenpunkt für Karawanen mit Salz und Gold – und leider auch ein Umschlagplatz für Sklaven, die von und nach Marokko und Ägypten gebracht wurden. Im Lauf der Jahrhunderte gehörte die Stadt mal zu Mali, mal zum Songhay-Reich, sie wurde von marokkanischen Truppen erobert und stand ab Ende des 19. Jahrhunderts unter französischer Kolonialherrschaft.

Mali wurde 1960 unabhängig, doch dauerhafter Frieden kehrte nicht ein. Immer wieder kam es zu Aufständen der Tuareg, die einen eigenen Staat wollten. Die wiederum wurden von den Islamisten der Gruppe Ansar ad-Dine und einem Al-Qaida-Ableger vertrieben. 2012 brachten der Archivar Abdel Kader Haïdara und zahlreiche Unterstützer wertvolle alte Handschriften aus Timbuktu auf geheimen Wegen vor den Gotteskriegern in Sicherheit – soweit in der Hauptstadt Bamako davon die Rede sein kann. Korrupte Regierungen wechseln sich mit Militärregimes ab, der letzte Putsch war 2020. Die Truppen aus Frankreich und Deutschland mussten zuschauen.

Inmitten von Chaos, Unruhen und islamistischer Bedrohung entstand die Idee mit den Postkarten. Der Tourismus war zum Erliegen gekommen, und so fragten der Amerikaner Phil Paoletta und seine malische Frau Bintou aus Bamako ihren Freund, den (ehemaligen) Tourguide Ali Nialy in Timbuktu, ob man nicht Postkarten von dort verschicken könnte. Gesagt, getan: Phil setzte die Website postcardsfromtimbuktu.com auf, und Ali und ein paar Freunde machten sich an die Arbeit. Eine im Internet bestellte Postkarte kostet zehn US-Dollar. Damit sind alle Produktions- und Portokosten abgedeckt, und es sichert einigen Familien das Überleben.

Als ich davon in der Zeitung las, war ich begeistert von der Idee. Hinfahren: schwierig, aber man konnte sich doch wenigstens eine Ansichtskarte schicken lassen! Timbuktu-Hamburg, das dauert allerdings. Ali musste anfangs erst mal den Postamtsleiter in Timbuktu reaktivieren, dessen Amt geschlossen war und der manchmal auch keine Briefmarken hat. Besagter Postmann muss sodann die Karten mit dem Moped zum Flughafen bringen, von wo sie mit einem Flug der UN nach Bamako befördert werden und schließlich irgendwann nach Europa, sprich: zunächst nach Paris gelangen. Fast hatte ich schon vergessen, dass ich eine bestellt hatte (an meinen Mann adressiert), als sie eines Tages eintraf, zu seiner Überraschung und meiner großen Freude.

Seither kommt ab und an eine Mail von Phil mit Nachrichten aus Mali. Corona sorgt auch dort zeitweise für Stillstand. Phil und Bintou bekommen ein neues Baby, verloren geglaubte Karten tauchen nach einigen Irrwegen doch noch auf, der deutsche Zoll zickt plötzlich wegen der kleinen Boxen aus Kamelleder, die man auch bestellen kann. Und Schlimmeres: Das eigentlich ziemlich dehnbare soziale Gewebe des Landes scheint rissig zu werden – Übergriffe, Schießereien, Entführungen. Frankreich verhängt ein Embargo gegen Mali, das auch Air France betrifft und somit die Beförderung von Post aller Art. Die russischen Söldner der Gruppe Wagner wüten gemeinsam mit dem malischen Militär und sind zumindest mitverantwortlich für das Massaker in der Stadt Moura, wo kürzlich bis zu dreihundert Menschen umgebracht wurden, auch Frauen und Kinder. Die russische Propagandamaschine funktioniert auch in Mali: Es habe sich um Dschihadisten gehandelt, heißt es, und viele glauben das.

Phil, Ali und die anderen haben kurz überlegt, ob sie das Postkartenprojekt beenden sollen, sich dann aber doch fürs Weitermachen entschieden. Wenn Sie also zehn Dollar und ziemlich viel Geduld übrig haben, dann bestellen Sie doch mal Grüße aus Timbuktu für einen netten Menschen. Was kann Schlimmeres passieren, als dass die Karte und damit auch das Geld verloren geht? Und was kann Besseres passieren, als dass es klappt, Empfängerin oder Empfänger sich freuen und ein paar Leute in Mali ihren Lebensunterhalt bestreiten können?

Ich selbst entschwinde jetzt für ein paar Wochen in den Urlaub, wenn auch nicht nach Timbuktu. Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich Ihnen keine Postkarten schicke. Wir lesen uns dann irgendwann im Juli wieder. Apropos lesen: Vergessen Sie bitte nicht, dass es die aktuelle Ausgabe des Greenpeace Magazins ab heute frisch am Kiosk gibt!

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Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin