Liebe Leserinnen und Leser,

zu Weihnachten, zum Jahresende habe ich die Ehre, Ihnen schreiben zu dürfen. Mein Kollege Fred Grimm, der neben anderen sonst an dieser Stelle scharf analysiert, was in Politik und Gesellschaft geschieht, nannte mich mit einem Schmunzeln Weihnachtsmann. Okay. Warum nicht? Nach einem Jahr voller schwieriger, manchmal lebensbedrohlicher  Situationen, einem Jahr voller Aufregungen, Dramen, aber auch Hoffnungen für uns alle nehme ich gerne die Rolle ein. Denn der Weihnachtsmann hat nicht nur Geschenke für die Kinder parat, sondern auch immer gute und freundliche Worte. Und natürlich eine Weihnachtsgeschichte. 

Meine handelt von Puschl. Puschl zeigt mir täglich wie nächtlich die Grenzen meiner Liebe, meiner Zuneigung zur Natur auf. Und wie viel Wildnis ich in meinem Stadtleben tatsächlich zulassen kann, will. 

Puschl ist vermutlich drei bis vier Jahre alt, hat rote Haare, springt morgens pünktlich um acht Uhr über meinen Balkon und checkt die Lage. Wenn ich Zeitung lese, versteckt das Eichhörnchen im Sommer in meinen Blumentöpfen seine Nüsse. Manchmal kracht ein Topf mit lautem Scheppern vom Tisch und zerplatzt am Boden, wenn das kleine Tierchen wieder zu hektisch in die Ringelblumen springt. 

Natürlich muss ich dann und wann Nüsse auslegen. Falls nicht, kommt Puschl schon bald ziemlich nah ans Küchenfenster. Noch aufgeregter als sonst wackelt der Kopf, der Schwanz, der ganze Körper. Los, Futterzeit! Ich halte es in Maßen, schließlich ist das Eichhörnchen ein Wildtier. Das soll es auch bleiben. 

Wobei ich im Frühjahr 2020 ein wenig daran zweifelte. Denn Puschl entschied sich vor meinem Badezimmerfenster, es ist etwa dreißig mal dreißig Zentimeter groß, aus Gras und abgenagten Rinden ein Nest zu bauen und mit mir eine EWG (Eichhörnchen-WG) zu gründen. Schlaue Aktion, denn vor dem Fenster ist noch ein gemauertes Gitter, das Hörnchen ist hier im ersten Stock perfekt geschützt vor Feinden und dem Wetter. Zunächst fand ich das süß, meine 15-jährige Tochter war hin und weg. Auch viele Freunde finden, es sei ein Geschenk. 

Die Akrobatin im roten Fell, ich vermute, es ist ein Weibchen, seitdem es ein Junges in das Grasnest legte, wohnt nun im Herbst und Winter und bei schlechtem Wetter vor meinem Badezimmerfenster. In Hamburg heißt das: praktisch immer! 

Puschl bringt mich dazu, bei Dunkelheit im Dämmerlicht zu duschen. Da uns nur etwa fünfzig Zentimeter trennen, ist es vielleicht besser so. Nur das Licht aus dem Schlafzimmer erhellt schwach das Badezimmer. Geht es mal nicht anders, weil Kontaktlinsen raus- oder reinmüssen, zieht es geblendet den Schwanz noch weiter über den Kopf und blinzelt mich verschlafen an. Ich versuche mich zu beeilen. Sehr.

Hier ist es sicher

Jetzt im Winter ist das Hörnchen jeden Tag da. Nur morgens verschwindet es zur Futtersuche. Kehrt dann zurück und nagt sein Fressen im Nest, klopft dabei laut an die Mauer, was mich am Wochenende schon mal aus dem Schlaf reißt. Aber egal, das Hörnchen gehört inzwischen einfach zu meinem Leben dazu. Sorgenvoll blicke ich durch die Fensterscheibe, wenn es nicht da ist, dann schiebe ich es auf das Wetter – die Sonne scheint, ein anderes Nest ist besser – und freue mich, wenn es beim nächsten Sturm wieder da ist. Hier ist es sicher. 

Wir beide verbringen nun auch die Feiertage zusammen. Ich hier drinnen, Puschl draußen vor dem Fenster. Auch heute an Weihnachten, wenn wir diesen Newsletter verschicken. An Silvester wird es sich freuen, wenn nicht geballert wird. Ich hoffe, dass Puschl noch ein paar Jahre hier bleiben wird. Eichhörnchen werden bis zu sieben Jahre alt. 

Jede Weihnachtsgeschichte hat am Ende auch immer eine Moral. Meine lautet „Rücksicht und Respekt“. Ich respektiere das kleine Tier und seine Eigenarten, nehme Rücksicht auf seine Winterschlafenszeit, akzeptiere es als Gast, statt mit einem Wisch sein Nest aus meinem Fenster zu entfernen. So einfach könnte ich sein Leben bedrohen. Das würde mir nie in den Sinn kommen. 

Rücksicht und Respekt wünsche ich Ihnen und uns allen für die nächsten Jahre. Sie wissen selbst am besten, für welche Bereiche das bei Ihnen gelten muss. Darum erspare ich Ihnen salbungsvolle Aufzählungen. 

Und ich wünsche Ihnen von Herzen alles, alles Gute für 2022. Wir machen eine kleine Pause mit der Wochenauslese – die nächste erhalten Sie am 14. Januar.

Unser nächstes Heft hat übrigens das Thema „Wir und die Wildnis“. Ich denke mal, das wird Sie nicht mehr überraschen.

Unterschrift

Michael Pauli
Chefredakteur