Liebe Leserinnen und Leser,

ganz ohne Silvesterkracher ging es wohl doch nicht: Die EU-Kommission zündete kurz vor Mitternacht einen speziellen Knaller. „Verordnungsentwurf zur EU-Taxonomie“ klingt zwar dröge, das bereits erwartete Papier hat es aber in sich. Es geht um Standards für klimafreundliche Investitionen. Sieh da, auch die „Brückentechnologien“ Erdgas und Atomenergie haben es auf die Liste geschafft. Dass wir das noch erleben dürfen! In Abwandlung eines alten Spruchs: Die Erde ist eine Scheibe, Schweine können fliegen und Atomkraft ist nachhaltig. Reaktoren stoßen beim Betrieb kein CO2 aus, so viel ist richtig. Ein paar Kleinigkeiten wie Uranabbau, Sicherheit, ungelöste Endlagerung, Weitergabe von spaltbarem Material und dergleichen müssen aber leider außen vor bleiben, ebenso die etwa 1,4 Milliarden Tonnen „grünes“ CO2, die summa summarum noch aus Gaskraftwerken kommen dürften.

Kaum hatten sich hierzulande Politik und Öffentlichkeit den Schlaf aus den Augen gerieben, brach Empörung los. Umwelt- und Klimaschutzorganisationen, Politik, Medien und Fachleute aus verschiedenen Bereichen stellten in unterschiedlich starken Worten, aber in der Sache durchweg übereinstimmend fest, dass da von „nachhaltig“ keine Rede sein kann. Mitglieder des 57-köpfigen wissenschaftlichen Gremiums, das die EU-Kommission beraten hat, fühlten sich veralbert. Das sei, als würde man Pommes frites als Salat bezeichnen, sagte einer von ihnen. Inzwischen haben sich alle Ampelparteien dazu durchgerungen, den Vorschlag abzulehnen. Die Frist für eine Stellungnahme wurde um eine gute Woche bis zum 21. Januar verlängert.

Das wird aber auch nicht viel nützen, denn außer Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal lehnen die meisten EU-Länder den Kommissionsentwurf nicht dezidiert ab oder begrüßen ihn sogar. Stoppen ließe er sich nur von mindestens 20 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, oder von mindestens 353 Abgeordneten des EU-Parlaments.

Allerdings haben diverse europäische Förderbanken schon angekündigt, sich bei ihren Finanzierungen nicht hundertprozentig an den EU-Kriterien zu orientieren. Dazu sind sie auch nicht verpflichtet. Und an echten nachhaltigen Finanzprodukten interessierte Anlegerinnen und Anleger, ob privat oder institutionell, sind ja nicht blöd und investieren größere Summen in Technologien, die noch gar nicht in größerem Maßstab existieren. In kleine modulare Reaktoren zum Beispiel, sogenannte SMR. Die stecken seit den 50er-Jahren in den Kinderschuhen und könnten etwa um 2035 serienreif sein. Ob der Klimawandel so lange Pause macht? Da SMR nur bescheidene 300 Megawatt Strom pro Anlage erzeugen, bräuchte man sehr, sehr viele von ihnen, und zwar subito. Derzeitiger Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromproduktion übrigens: gut zehn Prozent.

Dann wäre da noch die Preisfrage. Alle derzeit im Bau befindlichen Reaktoren liegen viele Jahre hinter dem Zeitplan zurück und haben bislang noch immer verlässlich alle Kostenschätzungen gesprengt. Bei Hinkley Point C in Großbritannien etwa haben sie sich seit den ersten Planungen 2008 verdoppelt und liegen nun bei 27 Milliarden Euro. Der Starttermin hat sich von 2017 auf 2026 verschoben. Billigen Strom wird das AKW auch nicht liefern. Die britische Regierung garantiert eine stattliche Einspeisevergütung von umgerechnet 10,5 Cent pro Kilowattstunde – für 35 Jahre. Wer sollte freiwillig sein Geld in solchen Milliardengräbern versenken?

Frankreich mit seinen gut 70 Prozent Atomstrom ist natürlich begeistert von der Taxonomie. Da sie sich wohl nicht mehr verhindern lässt, sollte man vielleicht zumindest Warnhinweise in Betracht ziehen, so wie sie ab März dieses Jahres in der französischen Autowerbung vorgeschrieben sind. Drei Slogans stehen hier zur Auswahl: „Ziehen Sie Fahrgemeinschaften in Betracht“, „Benutzen Sie für tägliche Routen öffentliche Verkehrsmittel“ und „Gehen Sie kurze Strecken zu Fuß oder fahren Sie mit dem Fahrrad“, Hashtag #SichBewegenWenigerVerschmutzen. Die könnte man für Atomkraftwerke abwandeln und gern etwas drastischer werden: „AKWs können den Menschen in ihrer Umgebung schwere Schäden zufügen“ oder einfach „Atomkraft kann tödlich sein“. Die Hinweise auf Zigarettenschachteln wirken jedenfalls, wenn sie nur groß genug sind.

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin