Liebe Leserinnen und Leser,

Sommerferien! Zwischen dem 22. Juni und dem 11. September müssen sich deutsche Familien, die in den Urlaub fahren können und wollen, entscheiden: Berge oder Meer? Als Kind der Insel Sylt müsste ich nicht lange überlegen: „Meine Liebe zum Meer, dessen ungeheure Einfachheit ich der anspruchsvollen Vielgestalt des Gebirges immer vorgezogen habe, ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf.“ Ist nicht von mir, sondern von Thomas Mann. Lange bevor Sylt zu der gruseligen „Promi-Insel“ verkam, die es heute ist, zog es auch ihn dorthin, so wie viele andere Schriftsteller, Malerinnen, Bildhauer, Tänzerinnen und Verleger.

Die Insel mag sich gründlich verändert haben, das Meer aber sieht oberflächlich noch immer so aus wie früher, als ich darin schwimmen lernte, und fühlt sich offenbar zumindest an der Nordseeküste auch so an. Die Wassertemperaturen sind nämlich momentan in etwa so, wie man sie zu dieser Jahreszeit erwarten kann: 18 Grad Celsius. „Ab 16 Grad können wir reingehen“, befand meine Mutter jedes Jahr um diese Zeit, und so geschah es. Für ausgesprochene Weicheier ist die Nordsee wohl eher nichts.

So frisch ist es derzeit nicht überall. Der Nordatlantik etwa übertraf vor knapp zwei Wochen den bisherigen Wärmerekord von 2010 um ein halbes Grad. 22,7 Grad Celsius betrug die Durchschnittstemperatur. Das klingt nach einem moderaten Anstieg, für einen Ozean ist es jedoch alarmierend. Der Sauerstoffgehalt kann sich verändern,  Korallenriffe können absterben, Algen zu nie gesehener Blüte gelangen, mehr Tropenstürme auftreten. Auch die Unwetter der letzten Tage in Deutschland könnten mit den ungewöhnlich warmen Meeren zu tun haben.

Bereits im April lagen die Meerestemperaturen um 0,7 Grad über dem langjährigen Mittelwert. Örtlich können sie aber deutlich höher sein. Im Pazifik wird Ähnliches beobachtet, etwa vor Peru und Ecuador. Expertinnen und Experten sind alarmiert, laut Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist das „schon eine extreme Temperaturabweichung nach oben“. In Fachkreisen hält man El Niño für einen der Schuldigen. Auch die mexikanische Regierung macht das zyklisch auftretende Wetterphänomen für das Sterben Hunderter Seevögel verantwortlich, die kürzlich an der Pazifikküste des Landes gefunden wurden.

El Niño, weniger Schwefelaerosole in der Atmosphäre infolge der seit 2020 geltenden niedrigeren Grenzwerte für Schifffahrtskraftstoffe, wenig Saharastaub über dem Atlantik – all diese Faktoren tragen mutmaßlich zu dem exorbitanten Temperaturanstieg bei, dürften aber insgesamt eher eine Nebenrolle spielen. Denn einer im Fachmagazin Earth Systems Science Data veröffentlichten Studie zufolge hat die Erde zwischen 1971 und 2020 unfassbare 381 Zettajoule an zusätzlicher Wärme aufgenommen (eine Zahl mit 21 Nullen, also so was hier: 381 000 000 000 000 000 000 000). Und 89 Prozent dieser Energie stecken wo? In den Meeren.

Das bedeutet vermutlich, dass weltweit die Meeresspiegel ein paar Jahrhunderte lang weiter steigen werden, selbst wenn ein Wunder geschähe und plötzlich überhaupt keine Treibhausgase mehr ausgestoßen würden. Die Ozeane absorbieren mehr klimaschädliches CO2, als sich derzeit in der Atmosphäre befindet. Leider gilt: Je wärmer das Wasser, desto geringer die Speicherkapazität.

Dabei haben die Vereinten Nationen gerade an diesem Montag unter dem Jubel der Delegierten das Anfang März ausgehandelte Abkommen zum Schutz der Weltmeere verabschiedet. Es erlaubt erstmals auch die Einrichtung von Schutzzonen in der Hochsee. Großen Anteil daran, dass die Meere im internationalen Seerecht überhaupt als schützenswertes und überlebenswichtiges Gemeingut angesehen werden, hatte übrigens Elisabeth Mann Borgese, fünftes der sechs Kinder von Katia und Thomas Mann (und dessen erklärter Liebling). Sie liebte das Meer mindestens so sehr wie ihr Vater, war maßgeblich am UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 beteiligt sowie an der Schaffung des Internationalen Seegerichtshofs.

Was das nun für die Auswahl Ihres Urlaubsziels bedeutet, weiß ich auch nicht. Aber wenn es das Meer sein soll: Wählen Sie eins, für das Sie nicht um die halbe Welt reisen müssen. Und denken Sie daran, dass das Einzige, was man am Strand hinterlassen sollte, die eigenen Fußabdrücke im Sand sind.

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Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin