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Was kommt nach «arm, aber sexy»? Berlin auf der Suche Von Caroline Bock und Burkhard Fraune, dpa

Berlin hat jetzt ein neues Schloss, einen Flughafen und sogar Dax-Konzerne. Aber die Stadt wächst nicht mehr, Tourismus und Clubszene liegen seit Corona am Boden. «Berlin wird nie fertig», heißt es. Oder doch?

Berlin (dpa) - Berlin braucht eine neue Story. Etwas, das die Leute aus aller Welt anzieht. Klar, Touristen interessieren sich für die Mauer und die bewegte Geschichte der Stadt. Aber Menschen, die früher nach Berlin zogen, fanden dort einen Abenteuerspielplatz mit Ruinencharme, mit sagenhaft günstigen Mieten. Das ist vorbei.

Die Altbauten sind saniert, statt Kohleheizung und Toilette im Treppenhaus gibt es längst edle Einbauküchen und Bäder mit Regenwasserdusche. Bei Wohnungsbesichtigungen stehen die Leute Schlange bis auf die Straße.

Vor der Abgeordnetenhauswahl am 26. September fragen sich viele in Berlin, wie es weiter geht mit der Stadt, was sie künftig noch ausmacht. Was kommt nach «arm, aber sexy»?

Wenn man den Unternehmer Ansgar Oberholz fragt, was das nächste große Ding werden muss, sagt er: Wohnraum und Stadtentwicklung. «Dass Berlin das geworden ist, was es ist, lag an den günstigen Mieten und den Freiräumen der Vergangenheit.» Im Moment gehe alles destruktiv gegeneinander - «Verbote und Gebote, Mietendeckel und Enteignung, anstatt dass sich alle konstruktiv an einen Tisch setzen: Investoren, Bürger, Politik und die Verwaltung».

In seinem Café «St. Oberholz» in Berlin-Mitte entstand um 2005 maßgeblich ein großer Trend: das mobile Arbeiten am Laptop. Damals war W-Lan etwas Neues, es war die Zeit der «digitalen Bohème». Mittlerweile hat Oberholz drei Unternehmen und 70 Mitarbeiter. Das größte Wachstum gibt es beim «Flex Office», der Organisation und Vermittlung von Büros auf Zeit.

Oberholz hat einige Start-ups groß werden sehen. Derzeit wachse der Bereich Software und Tech am stärksten. «Es wird immer mehr Unicorns (Einhörner) geben» - also Start-ups mit einem Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar. Es werde unter anderem um «Last-Mile-Delivery» gehen, also den Lieferservice für die letzten Kilometer: «Alles, was dort draußen mit Fahrrädern herumfährt. Das wird auch international exportiert werden.»

Jahrelang ist Berlins Wirtschaft stärker gewachsen als die gesamtdeutsche. Die größte Stadt hat heute wieder, was lange nicht mehr möglich erschien: Dax-Konzerne. Fünf dieser Börsenschwergewichte werden aus Berlin gesteuert. Einige waren vor ein paar Jahren noch Start-ups: HelloFresh, Zalando, Delivery Hero. Vor den Toren der Stadt wird sogar eine Autofabrik gebaut. Elektroautos von Tesla kommen bald auch aus Grünheide in Brandenburg.

Um die frühere Künstler-Ruine Tacheles nahe dem Bahnhof Friedrichstraße drehen sich Baukräne für Büros und Geschäfte. An der Spree gibt es im Ostteil der Stadt Luxuswohntürme und Großraumbüros mit Sichtbeton. Brachen verschwinden, Firmenzentralen folgen.

Die SPD-Frau Franziska Giffey, politisch in Neukölln groß geworden und jetzt im Rennen um den Bürgermeistersessel, will wirtschaftlich München überholen. «Das wäre doch mal schön: eine Vision, die sagt, Berlin ist besser als Bayern.» Nur die hohen Mieten will sie sich nicht abgucken.

Berlin soll anders bleiben - und auch ein Experimentierfeld. So wird in der Stadt erprobt, wie Leben, Wohnen, Forschen und Arbeiten in neuen Stadtvierteln zusammengebracht werden können - auf dem früheren Flughafengelände in Tegel etwa und in Siemensstadt. Der Reiz des Unfertigen, er darf nicht verfliegen.

Das soll auch helfen, dass Berlin für Gründer in der digitalen Welt die erste Adresse in Deutschland bleibt. Allein im ersten Halbjahr sammelten Berliner Start-ups mehr als vier Milliarden Euro Kapital ein, wie die Beratungsgesellschaft EY ausgerechnet hat.

Doch die digitale Ökonomie bringt nicht nur Gewinner hervor. Einen anderen Blick auf die neue Arbeitswelt hat, wer sich abstrampelt, um in zehn Minuten Supermarkt-Einkäufe auszuliefern oder bestelltes Essen, bevor es kalt wird.

Fahrer von Lieferdiensten protestieren immer wieder, etwa beim jungen Unternehmen Gorillas. «Cooles Image, miese Bedingungen», kommentiert die Gewerkschaft Verdi. Viele Studierende und zugezogene Ausländer, die Expats, arbeiten mittlerweile für Lieferservices. Leute aus der Clubszene jobben in Impf- oder Testzentren.

Für die Cafés ist es schwer geworden, Personal zu finden, wie Oberholz erzählt. Sein Unternehmen sei durch Kurzarbeit, Darlehen und staatlicher Hilfe gut durch die Corona-Krise gekommen, es stehe heute besser da denn je. Im November macht in Potsdam-Babelsberg das fünfte Oberholz-Café auf. Andere Projekte hat er in Biesenthal und in Mecklenburg.

So optimistisch klingen nicht alle in Berlin: Als der Kreuzberger CDU-Bundestagskandidat Kevin Kratzsch neulich Gesundheitsminister Jens Spahn zu einer Runde mit der Clubszene lud, war die Stimmung bei einigen sehr gereizt. Fast anderthalb Jahre dauerte die Corona-Zwangspause, das Nachtleben kommt erst allmählich auf die Beine.

Ähnlich ist es beim Tourismus: Eine halbe Million Gäste, das ist die amtliche Zahl für den Ferienmonat Juli. Klingt viel und ist auch mehr als letztes Jahr. Aber vor Corona kamen doppelt so viele. Der neue Flughafen BER - lange die Lachnummer der Nation - ist zwar endlich in Betrieb. Doch zwei der drei Terminals sind verriegelt. Sie werden erstmal nicht gebraucht.

Dabei gibt es noch immer viel zu entdecken in Berlin, das Humboldt-Forum etwa. So heißt das Ausstellungsgebäude, das außen aussieht wie das frühere Schloss der Hohenzollern. Und das auch am selben Platz steht. Lange hatte man dort den Palast der Republik der DDR verfallen lassen. Noch so ein Ort, wo Ruinen verschwunden sind und Berlin gediegener wurde, vielleicht auch gesetzter.

Die Berliner wetteifern um den Raum in der Stadt. Soll das Land große Wohnungsunternehmen enteignen? Eine Frage, die die Wähler in einem Volksentscheid beantworten sollen. Nicht nur auf dem Immobilienmarkt ist es enger geworden, auch auf der Straße.

Seit drei Jahren schreibt ein Gesetz vor, Busse, Bahnen und Radverkehr auszubauen, auch den Fußverkehr, wie später ergänzt wurde. Autos sollen zurückgedrängt werden, doch das Thema wird zur Glaubensfrage. Als es kürzlich konkret werden sollte, zerschellte das Vorhaben im Wahlkampf zwischen den Noch-Koalitionspartnern SPD, Grüne und Linke. Berlin bestehe nicht nur aus der Innenstadt, heißt es von den Skeptikern. Viele seien aufs Auto angewiesen.

Immerhin: Es gibt ein paar zusätzliche Radwege, manche auch in Grün. Und die Vorzeigestraße Unter den Linden verändert ihr Gesicht: weniger Autos, mehr Platz für Radfahrer und Busse. Eine Volksinitiative geht weiter: Im Jahr höchstens zwölf Autofahrten pro Kopf, dafür sammelt sie Unterschriften.

Ansgar Oberholz sagt: «Ich bin kein Freund von Verboten, meist lässt es sich auch anders regeln.» Berlin habe nicht so viel grundlegende Substanz, anders als London und Paris, wo es vielleicht nicht so drastisch sei, wenn es dort keinen günstigen Wohnraum gebe. «Aber Berlin macht im Kern dieser Freiraum aus, und der wird zerstört. Das nächste große Ding muss Wohnungsbau sein.»

«Gerade ist es ganz beschaulich», sagt Oberholz. «Aber derzeit ist Mitte leer, die Expats und die Touristen fehlen. Das muss wiederkommen. Berlin muss ein internationaler Anziehungspunkt sein, das ist der Anspruch einer Metropole.» Nötig seien echte Deregulierung, ein entspannteres Miteinander und wieder mehr Freiraum. «Seitdem ich in Berlin bin, habe ich das Gefühl, dass Dinge trotz der Politik passieren, nicht wegen der Politik.»