Für die einen ist das Auto ein Symbol der Freiheit, für die anderen Sinnbild einer menschenfeindlichen Verkehrspolitik und des allzu vertraulichen Miteinanders von Industrie und Politik. Aber wie kam es eigentlich dazu?

Auf einmal war die Übermacht des Autos gebrochen, so schien es jedenfalls. Mitten in Köln besetzten Eltern einen Parkplatz und bauten ihn zum Spielplatz um. Auch Einkaufsstraßen wurden autofrei. Der Industrie- und Handelstag bejubelte die neuen „Bummelparadiese“ und zählte 170 Fußgängerzonen im Land. „Der Mensch hat Vorfahrt“, verkündete der Bundesverkehrsminister, plante viel Geld für Bahnen und Busse ein und verordnete Tempo 100. Um Sprit zu sparen, galt an Sonntagen sogar ein generelles Fahrverbot. Auf den Autobahnen spazierten jetzt Familien mit ihren Kindern. Ein paar Luftballons flogen über den Asphalt. „Das Auto“, formulierte der Stern-Kolumnist Sebastian Haffner hintersinnig, „ist überholt.“

© Jörg Brüggemann/OSTKREUZ<p>STILLSTAND Früher oft der Beginn des Sommerurlaubs, heute Alltag. Allein zwischen 2012 und 2018 nahmen die Staus um 150 Prozent zu</p>
© Jörg Brüggemann/OSTKREUZ

STILLSTAND Früher oft der Beginn des Sommerurlaubs, heute Alltag. Allein zwischen 2012 und 2018 nahmen die Staus um 150 Prozent zu

Lange her. Aber irgendwie auch nicht. Gut 15 Millionen Pkws waren damals, im Jahr 1973, aus dem diese Momentaufnahmen stammen, in Deutschland gemeldet. Man zählte 5741 Kilometer Autobahn und 16.302 Verkehrstote im Jahr. Die Ölvorkommen wurden knapp, der Platz auf den Straßen und in den Städten war es längst. Im März 1973, bei der Verleihung des Preises für das „Auto des Jahres“, hielt der damalige Städtebauminister Hans-Jochen Vogel (SPD) beinahe schon eine Art Abschiedsrede. Die Motorisierung durch die Pkws sei in eine „Übermotorisierung umgeschlagen, die aus Wohlstand Plage werden lässt“. Die „Verkehrstechnologie“ habe „mit der technischen Entwicklung auf anderen Gebieten nicht Schritt gehalten“. Vogel schlug vor, die „Vorteile des Kraftfahrzeugs“ und die „Vorteile der Schienenverkehrsmittel“ in einer völlig neuen Art Fahrzeug zu verbinden. Auf jeden Fall müsse sich die Autoindustrie dringend „Gedanken über die eigene Zukunft“ machen. Der Beifall in den Reihen der Industrievertreter fiel eher spärlich aus.

Ein Jahr später war der Traum vom Tempolimit, von neuen Verkehrstechnologien und der „Vorfahrt für den Menschen“ schon wieder ausgeträumt. „Potente Interessengruppen sind sehr aktiv gewesen”, kommentierte Verkehrsminister Lauritz Lauritzen (SPD) die monatelange, mit vielen Millionen Mark unterfütterte Kampagne von Industrie und ADAC gegen ihn und trat zurück.

Das erste Tempolimit in Deutschland scheiterte an einer Hetzkampagne von CDU, „Bild“, und ADAC

Anspielungen auf seinen Alkoholkonsum in den Medien und eine aggressive „Freie Bürger fordern freie Fahrt“-Propaganda hatten „Minister Lau-Lau“ („Bild“) zermürbt. Auch Hans-Jochen Vogel verstummte. Der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt setzte das größte Straßenbauprogramm der deutschen Geschichte in Gang. Irgendwo mussten die vielen Autos ja hin. Schmidt hatte schon Mitte der Fünfzigerjahre als junger SPD-Bundestagsabgeordneter für freie Fahrt gekämpft, unter anderem mit einem Milliardenprogramm, das mit breiten „Durchfahrtsstraßen“ Schneisen in deutsche Altstädte schlagen sollte („Beseitigung unübersichtlicher Stellen“).

© picture allianceES WAR EINMAL 1973, während der Ölkrise, galt an Sonntagen in mehreren Ländern Europas Fahrverbot und die Kinder eroberten die Autobahnen für sich
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ES WAR EINMAL 1973, während der Ölkrise, galt an Sonntagen in mehreren Ländern Europas Fahrverbot und die Kinder eroberten die Autobahnen für sich

Heute, da Deutschland sich beim Autobestand der Fünfzig-Millionen-Grenze nähert, wirken Vogels Worte frappierend aktuell. Noch immer fahren auf deutschen Straßen fast ausschließlich Autos mit Verbrennermotoren herum – nach dem gleichen energieverschwendenden Prinzip wie der erste Benz aus dem 19. Jahrhundert. Und wer die beinahe niedlichen Autos der frühen Siebzigerjahre schon für „übermotorisiert“ gehalten hat, dem muss angesichts der im Schnitt eineinhalb Tonnen schweren, 158 PS starken und 200 Stundenkilometer schnellen Neuwagen von heute erst recht schwindlig werden. Was ist da passiert in den vergangenen Jahrzehnten? Wieso dürfen die Grenzen der automobilen Überlastung immer wieder neu gezogen werden? Selbst in Zeiten, in denen die Autoindustrie als Abgas-Großbetrüger und notorischer Klimafeind entlarvt worden ist?

© dpa<p>KEIN PLATZ MEHR Heute werden die Räume von immer größeren Wagen zugestellt, manchmal sogar die Radwege</p>
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KEIN PLATZ MEHR Heute werden die Räume von immer größeren Wagen zugestellt, manchmal sogar die Radwege

„Mit industriellem Gruß“

Damals wie heute stößt die Kritik an der Übermacht des Autos auf eine Phalanx aus Beziehungen, Institutionen, Rechtsvorschriften, Finanzströmen und Ideologie. BMW, CDU/CSU, ADAC, VW, IGM, SPD, BMVI lauten einige der bekannteren Abkürzungen aus der Autofront. Der Verband der Automobilindustrie, VDA, gehört als wichtigster Lobbyist ebenso dazu wie das Kraftbundesamt, KBA, das sich in der Vergangenheit wohl eher als Dienstleister für die Branche als für deren Kunden verstanden hat. Der VDA, der keine Zahlen zu seinem Etat veröffentlicht, lässt sich allein die Lobbyarbeit bei der EU in Brüssel jährlich 2,5 Millionen Euro kosten. Im eleganten Berliner Markgrafenpalais beschäftigt der Verband an die hundert Mitarbeiter für die fürsorgliche Belagerung von Beamten und Politikern. 2015 kam heraus, dass die Bundestagsfraktion der Union dem VDA zur Erleichterung seiner Arbeit einen der begehrten Hausausweise zugeschanzt hatte. Das dem Bundesverkehrsministerium unterstellte KBA verschwieg wohl jahrelang die Manipulation von Abgasmessungen durch die Autohersteller und verwies auf „unabhängige“ Prüfungen durch den TÜV – der dafür aber nicht vom KBA bezahlt wurde, sondern von der Autoindustrie. Später tauchten Briefe des damaligen KBA-Präsidenten Ekhard Zinke an deutsche Autokonzerne auf. Unterschrieben „mit industriefreundlichem Gruß“.

Das Auto gilt bis heute vielen Deutschen als Versprechen eines freien Lebens, ein Ausdruck der Individualität

Da gibt es auch noch die öffentlich kaum bekannte Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (FGSV), ohne deren Standards in den vergangenen Jahrzehnten kaum eine Straße gebaut wurde. Bei der Verteilung der knappen Räume schnitten die Autofahrer immer besonders gut ab. Oder den Verkehrsgerichtstag in Goslar, der mit seinen autofreundlichen Empfehlungen den Rechtsrahmen für Urteile und Gesetze zum Straßenverkehr prägt. Die Gutachten, die in den Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen erstellt werden, verraten ebenfalls große Leidenschaft, sobald es um die Rechte des Autofahrers geht. 2019 kommentierte der Jenaer Juraprofessor Michael Brenner eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Fahrverboten, die erstmals den Gesundheitsschutz für Passanten höher bewertet hatte als das Recht, mit seinem Dieselfahrzeug überall hinzufahren.

© Ullstein BildSCHAUSPIEL Adolf Hitler beim Besuch der Internationalen Automobilausstellung IAA 1939
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SCHAUSPIEL Adolf Hitler beim Besuch der Internationalen Automobilausstellung IAA 1939

Das Urteil habe „das Vertrauen der Deutschen in die Sinnhaftigkeit europäischer Normen nachhaltig erschüttert – von der unmächtigen Wut vieler Autofahrer ganz abgesehen“. Zu den vielen juristischen Stellungnahmen im Sinne der Autoindustrie kommt die bezahlte Expertise aus anderen Fachbereichen. Ein Beispiel: 2013 testeten Forscher an der Uniklinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen sowie der TU und der Ludwig-Maximilians-Universität München im Auftrag von Daimler, Volkswagen und BMW an Freiwilligen, wie schädlich Abgase aus Dieselmotoren für den Menschen sind. Nicht zu vergessen eine immer noch ziemlich autoaffine Medienlandschaft, die durch Anzeigen von Daimler, BMW, VW & Co. mitfinanziert wird. Die Rezensionen neuer Fahrzeuge in ihren Autoteilen gehören zu den besonders bizarren Lesevergnügen. „Es gibt nur noch Spaßverderber, die dem letzten Gramm CO2 jede Dynamik opfern? Zum Glück ist das nicht so.“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“)

Minister Andreas Scheuer sagt, dass die Menschen aufs Auto angewiesen sind. Und das werde auch so bleiben

Nur als platte Lobbypolitik hätte der Einsatz für die Interessen der Autoindustrie in all den Jahrzehnten niemals so gut funktioniert. Da war stets mehr, eine Sehnsucht vieler Deutscher nach dem Glück auf vier Rädern. „Das Auto war immer eingebettet in das Versprechen eines selbstbestimmten Lebens“, erklärt der Mobilitätsforscher Weert Canzler. Die Familienurlaube im ersten Käfer, die Fahrten zur Wochenenddisco im geliehenen Auto der Eltern, die laute Musik aus dem Radio auf dem Weg zum Strand, der erste Sex, der erste Kindersitz – viele Ältere verbinden mit dem Auto bis heute die schöneren Momente ihrer Biografie. Noch mal Weert Canzler: „Das Auto ist Ausdruck und Katalysator des Selbst.“ Mein Auto bin ich.

Adolf Hitler – Deutschlands erster Autokanzler

In seiner Dissertation über das „Automobil als nationales Identifikationssymbol“ hat der Berliner Historiker Gregor M. Rinn die Aufstiegsgeschichte des Autos näher untersucht. Seine Analyse beginnt mit einer Rede Adolf Hitlers, der früh das propagandistische Potenzial der Automobilmachung erkannte. Seine Pläne, die er, kaum ins Amt berufen, am 11. Februar 1933 auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) in Berlin skizzierte, lesen sich wie die Regierungserklärung für ein zukünftiges Volk von Autofahrern. Das Auto solle vom „Luxusobjekt einzelner zum Gebrauchsobjekt für alle werden“. Dafür wolle er viele Straßen bauen, die „Blutbahnen des Volkskörpers“, auf denen der deutsche Autofahrer ungestört durch die Landschaft rasen kann – die Autobahnen. Hitler knüpfte ein Band, welches den Erfolg des Autos in eins setzt mit dem Schicksal der Nation: Die Regierung finanziert Straßen, Brücken, eben alles, was der Autofahrer braucht. Sie fördert die Autoindustrie, die mit ihren Produkten die Sehnsüchte großer Teile des Volkes befriedigt – das wiederum zu Hunderttausenden Fahrzeuge und Straßen baut und so die Volkswirtschaft am Leben hält.

© Zavatskiy Aleksandr/Shutterstock.comIMMER NOCH SCHAUSPIEL Die festliche Präsentation besonders kraftvoller Fahrzeuge gehört bis heute zur DNA der IAA
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IMMER NOCH SCHAUSPIEL Die festliche Präsentation besonders kraftvoller Fahrzeuge gehört bis heute zur DNA der IAA

Dazu feierten die Nationalsozialisten den Autofahrer als modernes Gegenbild zur sozialistischen „Gleichmacherei“. Unter ihrer Regierung wurden die Kfz-Steuern abgeschafft und die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Autoverkehr vereinheitlicht. Im Gesetz „zur Ordnung des deutschen Siedlungswesens“ aus dem Jahr 1939 heißt es: „Die Zunahme der Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr erfordert, dass die öffentlichen Verkehrsflächen fur den fließenden Verkehr frei gemacht werden.“ Und außerdem: „Zur Förderung der Motorisierung ist die Unterbringung der Kraftfahrzeuge zu erleichtern und zu verbilligen.“ Auch die „Reichsgaragenordnung“, nach der man nur bauen darf, wenn man auch für Parkplätze sorgt, prägt seither die ungerechte Raumaufteilung zwischen Auto und Mensch.

Die entscheidenden Weichenstellungen in der Verkehrspolitik der Nachkriegszeit wurden ganz im Sinne dieser Prinzipien vollzogen. Das gilt für das Jahr 1955, als mit Einführung einer großzügigen Pendlerpauschale für Autofahrten ein Nachfrageboom nach Pkws einsetzte. Das gilt für das Jahr 1960, als der Bundestag beschloss, aus den Mineralölsteuereinnahmen nur noch den Straßenbau zu finanzieren und bei der Bahn nach Kräften zu sparen. Das gilt erst recht für die Zeit ab 1991, als die EU-Kommission die Autoindustrie erstmals auf drastische CO2-Einsparungen verpflichten wollte und die deutsche Regierung stattdessen eine „freiwillige Selbstverpflichtung“ der Hersteller durchdrückte – die nicht befolgt wurde. Die Anlässe wechselten, die publizistische Begleitmusik der Motormänner folgte einem Sound, den man aus früheren Zeiten kannte. In den Fünfzigerjahren stellte der Kolumnist der „ADAC Motorwelt“ das Auto als „Instrument des Individualismus“ gegen den „plangebundenen, kollektiven Charakter“ der Bahn.

© Paul Langrock/laifPS-PALAST In der VW-Autostadt warten fabrikneue Fahrzeuge auf Selbstabholer
© Paul Langrock/laif

PS-PALAST In der VW-Autostadt warten fabrikneue Fahrzeuge auf Selbstabholer

In den Siebzigern wetterte „Bild“-Chefredakteur Peter Boenisch gegen die Sozialdemokraten, die das Auto aus „gleichmacherischen“ Motiven heraus „am liebsten abschaffen und den arbeitenden Menschen zur kollektiven Busfahrt“ verurteilen wollten. Die Idee vom freiheitsliebenden Autofahrer, der sich den Sozial- oder Ökoromantikern und ihrem „Kulturkampf gegen das Auto“ (FDP-Chef Christian Lindner) entgegenstemmen muss, um die industrielle Schaffenskraft der Nation zu retten, wabert bis heute durch den politischen Raum.

Adern mit Superbenzin

Eines der ersten Worte, das deutsche Kinder lernen, lautet „Vorsicht!“ Es ist die Horrorvorstellung aller Eltern: Kaum hat das Kleine laufen gelernt, tapert es auch schon auf die Straße, ein Auto rast heran… Es dauert lange, vor allem in den Städten, bis Eltern sich trauen, ihre Kinder von der Hand zu lassen. Den Kleinen wird so von den ersten Schritten an beigebracht, sich dem Bewegungsdrang der Autos zu fügen und Rücksicht zu üben – anstatt davon auszugehen, dass die Autofahrer das tun. Straßenverkehrsordnung in Deutschland bedeutet vor allem Straßenverkehrsunterordnung – für alle Nicht-Autofahrer. Eine Zeichnung des schwedischen Künstlers Karl Ilg macht die Disbalance anschaulich. Statt Straßen setzte er tiefe Schluchten in sein Bild, an deren viel zu schmalen Rändern – hierzulande „Bürgersteige“ genannt – sich die ängstlichen Passanten drängen. Allein in den Jahren zwischen 2000 und 2010 stieg der Flächenbedarf der Autos in Deutschland pro Wagen um 13 Prozent. 830.000 Kilometer Straße ziehen sich durch Deutschland, von der Autobahn (13.000 Kilometer) bis zur kleinen Wohnstraße. Im ganzen Land stehen 160 Millionen Stellplätze zur Verfügung. Bei zwölf bis 15 Quadratmetern pro Parkplatz ergibt das eine Fläche, die beinahe so groß ist wie Hamburg und Berlin zusammen. Eine riesige Fläche, die Deutschland den Menschen entzieht und dem Automobil zum Herumstehen reserviert.

© Ullstein BildMILLIONENSPIEL Der millionste produzierte Käfer gilt als einer der größten „Wir sind wieder wer“-Momente der deutschen Nachkriegsgeschichte
© Ullstein Bild

MILLIONENSPIEL Der millionste produzierte Käfer gilt als einer der größten „Wir sind wieder wer“-Momente der deutschen Nachkriegsgeschichte

Wo genau und wie Straßen, Schienen oder gar Radwege gebaut werden, entscheidet sich im Haus von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Aus seinen Präferenzen macht der CSU-Politiker in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ kein Hehl. „Es ist und bleibt so, dass Menschen auf das Auto angewiesen sind.“ Für Neubau und Erhalt der Bundesfernstraßen werden im Haushalt 2020 mehr als zehn Milliarden Euro veranschlagt. Für den Schienenausbau sind dagegen knapp sieben Milliarden vorgesehen, mit sinkender Tendenz bis 2023, beim Bau von Radwegen gar nur 130 Millionen. Unlängst kam heraus, dass Scheuer 2019 von diesem Geld zwölf Millionen Euro für Bundesstraßen abgezapft hat.

„Durch Andis Adern fließt Superbenzin“, sagt sein Parteifreund und Amtsvorgänger Peter Ramsauer. Als junger Bundestagsabgeordneter hatte Scheuer den „Parlamentskreis Automobiles Kulturgut“ ins Leben gerufen, eine „Kampftruppe“ („Zeit“) für das Auto. Heute ist er einer dieser modernen Verkehrspolitiker, die gern von neuen „Mobilitätsprojekten“ reden, bei denen am Ende aber irgendwie immer nur was fürs Auto herauskommt: das Auto, das man mit anderen teilt, das fliegende Auto, das Auto, das selbst lenkt, das wasserstoffgetriebene… Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Stephan Kühn, hat mal nachgefragt, wofür denn zum Beispiel das ganze Fördergeld aus Scheuers Programm für „autonome Mobilitätsprojekte“ ausgegeben wird. Schließlich eignen sich entsprechende Technologien besonders gut für neue Konzepte im öffentlichen Nahverkehr. Die Antwort: Forschungen für das autonome Autofahren, deren Nutzen umstritten ist erhalten viermal mehr Mittel als der gesamte Rest.

,Digitalisierung‘ und Oberleitungen für LKWs – die Klimaschutzpläne im Verkehr sind eine Luftnummer

Man kann Autominister Scheuer, der die Idee eines Tempolimits auf Autobahnen für „gegen jeden Menschenverstand“ gerichtet hält und der sich 2019 elfmal mit Vertretern der Automobilindustrie zu Einzelterminen getroffen hat, aber mit keinem Vertreter einer Umweltorganisation, nicht vorwerfen, dass es ihm an Optimismus fehlt. Klimaschutz im Verkehr, das werde schon irgendwie gehen, ohne die Bürger „mit Verzicht, Verbot und Verteuerung in Panik zu versetzen“. Der Klimaschutzplan seines Ministeriums unterlegt den Wunderglauben mit Zahlen. „17 bis 18 Millionen Tonnen“ CO2-Einsparungen sollen durch die Umstellung des Antriebes bei Lkws auf Strom, Brennstoffzelle und Oberleitungen bis zum Jahr 2030 erzielt werden. Bisher existiert bei den Lkw-Oberleitungen, die zum Erreichen des Klimaschutzziels ein 4000 Kilometer langes Netz benötigen würden, erst eine fünf Kilometer lange Teststrecke. Von der „Digitalisierung (Homeoffice, automatisiertes Fahren)“ erhofft sich Scheuer weitere sieben Millionen Tonnen CO2-Reduktion. Experten aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium haben nachgerechnet, dass die Planzahlen wenig realistisch sind.

Im Kanzleramt zu Hause

Das Bundesverkehrsministerium gilt längst als eine Art Selbstbedienungsladen der Automobil-, Straßen- und Tiefbaubranche. Für die ganz großen Themen konzentriert sich die Arbeit der Lobbyisten aufs Kanzleramt. Dort wird die Zukunft des Autos verhandelt, dort kennen sie sich ohnehin gut aus. Ex-Kanzleramtsminister Eckart von Klaeden, CDU, arbeitete bis 2013 dort und zwei Monate nach seinem Ausscheiden bereits für Daimler. Neben ihm gilt vor allem VW-Repräsentant Thomas Steg als wichtiger Akteur im Hintergrund. Steg war unter Autokanzler Gerhard Schröder stellvertretender Leiter des Kanzlerbüros und arbeitete bis 2009 als stellvertretender Regierungssprecher mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen.

Überhaupt scheint Merkel, deren unerbittlicher Einsatz für die Interessen der deutschen Autohersteller auf EU-Ebene schon manches Klima- und Umweltschutzprojekt zerschossen hat, anziehend auf Menschen zu wirken, die ihren Weg in der Automobilwirtschaft finden. Michael Jansen, seit 2015 Leiter der Konzernrepräsentanz der Volkswagen AG in Berlin, leitete drei Jahre lang Merkels Büro während ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende. Hildegard Müller, frisch gekürte Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie, arbeitete als Staatsministerin ebenfalls drei Jahre lang für Angela Merkel im Kanzleramt. Sie gilt bis heute als eine ihrer engeren Vertrauten. Anders als Bernhard Mattes, ihr etwas ungelenker Vorgänger beim VDA, hat sie keine Schwierigkeiten, bei einem Anruf direkt zu Merkel durchgestellt zu werden. Als sie sich beim Neujahrsempfang ihres Verbandes in Berlin als neue Präsidentin vorstellte, freute sie sich über die „vielen bekannten Gesichter“ im Publikum und sprach den Gästen aus dem Herzen. „Ich bin mir sicher: Wir werden in Zukunft eher mehr individuelle Mobilität erleben denn weniger.“ Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zeigte sich dienstbereit. „Wir brauchen eine Agenda, liebe Hildegard Müller.”

© Andreas Teichmann/laifMENGENLEHRE Eine Kreuzung am Mannheimer Kaiserring: jede*r gegen jeden. In vielen Städten sehnt man sich nach autofreien Zonen, in denen Fußgänger und Radfahrer sich nicht mehr durch die stetig wachsende Masse aus Blech und schlechter Laune kämpfen müssen
© Andreas Teichmann/laif

MENGENLEHRE Eine Kreuzung am Mannheimer Kaiserring: jede*r gegen jeden. In vielen Städten sehnt man sich nach autofreien Zonen, in denen Fußgänger und Radfahrer sich nicht mehr durch die stetig wachsende Masse aus Blech und schlechter Laune kämpfen müssen

Das vertraute Miteinander der Akteure aus Wirtschaft und Politik trägt wesentlich dazu bei, dass sich auch der nächste große Wandel in der Branche zu vollziehen scheint, ohne die Grundidee des Autos in Frage zu stellen. Die EU-Kommission hat verfügt, dass die Autohersteller den CO2-Ausstoß ihrer Neuwagen bis 2030 um weitere 37,5 Prozent gegenüber 2021 reduzieren müssen. Das stellt deutsche Hersteller, die sich auf nicht eben klimafreundliche SUVs spezialisiert haben, vor große Herausforderungen. Aber wie immer, wenn es ein grundsätzliches Problem mit dem Auto gibt, findet die Branche die gleiche Lösung: neue Autos. Mehr Autos. Mit anderer Technik. Als sich in den Siebzigerjahren die Zahl der jährlichen Todesopfer durch Verkehrsunfälle der 20.000er-Grenze näherte, verhinderte die Autoindustrie eine Geschwindigkeitsbeschränkung, entwickelte stattdessen neue Bremssysteme und verstärkte die Karosserien. In der Zeit des Waldsterbens wurde das „umweltfreundliche“ Auto mit Katalysator erfunden, das einfach nur weniger schädlich war. Doch mit den Jahren wurden die Autos immer größer, komplizierter, kampfbereiter. Die Designer setzten den Fahrzeugen schmale, aggressive Schweinwerferschlitze ins Antlitz, erhöhten die „Gürtellinien“ und pumpten „muskulöse“ Kotflügel auf. 

Die ganz ganz große Autokoalition

Jetzt soll das Elektroauto den Weg in eine klimaneutrale Zukunft ebnen. Zehn Millionen neue Pkws mit E-Antrieb müssten dafür bis 2030 verkauft werden – die Regierung hilft nach Kräften mit, so wurde es im Kanzleramt vereinbart. Aus Steuergeldern – auch der Fußgänger, Bahn-, Bus- und Radfahrer – gibt es ein paar Milliarden für den Ausbau der Ladeinfrastruktur sowie Prämien für den Kauf von Elektroautos. Auch Plug-in-Hybride mit zweifelhafter Umweltbilanz werden bedacht. Und weil die E-Autos trotz der Staatshilfe immer noch sehr teuer sind, hob die Bundesregierung die Pendlerpauschale kräftig an. Ein Hilfsprogramm, Aufbau Auto, wieder mal. „Zum Glück gibt es jetzt so etwas wie einen neuen deutschen Autokonsens“, wird VW-Lobbyist Thomas Steg in der „Frankfurter Rundschau“ zitiert. 

Grundsätzliche Zweifel an der Übermacht des Autos schaffen es nicht in die Führungsetagen der Politik

Hätte man statt über zehn Millionen neue, andere Autos vielleicht auch mal über zehn Millionen Pkws weniger nachdenken können? Über ein Moratorium für den Straßenbau, den Einstieg in den Ausstieg aus der völlig überdimensionierten Automobilkultur oder über die Neuerfindung der „Verkehrstechnologie“ als Verschmelzung von privater und öffentlicher Mobilität, so wie das Hans-Jochen Vogel schon vor 47 Jahren vorgeschlagen hatte? Nur noch 19 Prozent der unter 35-jährigen Deutschen halten das Auto für unverzichtbar. Für autofreie Innenstädte oder Tempolimits gibt es längst klare Umfragemehrheiten. Fußgänger und Radfahrer protestieren gegen die Dominanz des Pkws – aber solche grundsätzlichen Zweifel an der automobilen Zukunft schaffen es nicht in die vertraulichen Runden im Kanzleramt. Einmal Auto, immer Auto. Dahinter versammelt sich in Deutschland noch immer eine ganz ganz große Koalition, die sogar Teile der Grünen umfasst. Kürzlich meldete sich Winfried Kretschmann, immerhin erster grüner Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes, im „Tagesspiegel“ zu Wort: „Das Auto wird neu erfunden, das ist eine große Aufgabe.“ Vor ein paar Jahren noch hatte er die Industrie mit der Bemerkung „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr“ geschockt. Jetzt freut er sich erst mal auf mehr. „Deutschland muss Autoland bleiben.“

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