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Der Fall des Königs - Belgien ringt mit kolonialer Vergangenheit Von Marie Reichenbach, Ella Joyner und Pascal Mulegwa, dpa

Auch 60 Jahre nach der Unabhängigkeit des Kongos hat Belgien seine Kolonialvergangenheit nicht aufgearbeitet. Rassismus spaltet das Land bis heute. Die jüngsten Proteste könnten ein Wendepunkt sein.

Brüssel/Kinshasa (dpa) - Vor dem Königspalast in Brüssel hat Leopold II. noch seinen Ehrenplatz. Doch an vielen anderen Orten in Belgien ging es dem früheren König in den vergangenen Wochen an den Kragen: Denkmäler wurden beschmiert oder entfernt. 60 Jahre nach der Unabhängigkeit des Kongos befeuern Anti-Rassismus-Demonstrationen den Streit um Belgiens koloniale Vergangenheit.

Im späten 19. Jahrhundert hatte Belgien den Kongo besetzt. König Leopold II. verwaltete das Land, das etwa 70 Mal so groß war wie Belgien, von 1885 bis 1908 als Privatbesitz und regierte mit brutalsten Methoden. Acht bis zehn Millionen Kongolesen sollen nach Schätzungen von Historikern unter seiner Herrschaft ums Leben gekommen sein - knapp die Hälfte der damaligen Bevölkerung. Noch bis zum 30. Juni 1960 gehörte das Land zum belgischen Kolonialreich.

«Die belgische Kolonialisierung zerstörte die kongolesische Gesellschaft», sagt Bienvenu Matumo, ein Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Lucha im Kongo. Heute finden sich Statuen von Leopold II. in Kongos Hauptstadt Kinshasa nur noch in Museen. Doch gibt es Ausbeutung, wenn auch unter kongolesischer Herrschaft - von wertvollen Mineralien, Gold, Diamanten, Kobalt und Coltan und von Menschen noch immer. Korrupte Regierungen, Milizen und in- und ausländischen Bergbaufirmen verdienen daran gut. Bei Kobalt und Coltan etwa stehen am Ende der Kette Kunden auch in Europa, die Laptops oder Handys nutzen.

Die Kolonialzeit war in Belgien lange ein Tabuthema. Das Land habe diese Zeit nie wirklich überwunden, sagt eine Aktivistin vom Dekolonisierungskollektiv «Memoire Coloniale» der Deutschen Presse-Agentur. «Auch heute ist das Narrativ der Kolonialzeit noch sehr präsent: im öffentlichen Leben, in Schulbüchern, in den Köpfen der Menschen.»

Sie ist sich sicher, dass koloniale Denkmuster bis heute Diskriminierung und Rassismus in Belgien fördern. Bisher sei auch nicht viel dafür getan worden, diese Strukturen zu überwinden, kritisiert die ehrenamtliche Mitarbeiterin von «Memoire Coloniale». Für große Diskussion sorgt beispielsweise seit Jahren der «Zwarte Piet» («Schwarzer Peter), der in Belgien und den Niederlanden der böse Helfer des Nikolauses ist.

Auch die berühmten Comics «Tim und Struppi» sind politisch umstritten. Vor allem die frühen «Tintin»-Folgen - darunter «Tim im Kongo» aus dem Jahr 1931 - spiegeln das rassistische Weltbild dieser Zeit. Trotz des zweifelhaften politisch-ideologischen Hintergrunds sind die Comics von Autor Hergé in Belgien aber bis heute Kult.

UN-Menschenrechtsexperten warnten in einem Bericht vergangenes Jahr, Bürger afrikanischer Herkunft erlebten in Belgien Rassismus und Diskriminierung. Es sei bewiesen, dass dies auch in belgischen Institutionen verbreitet sei. Schon damals übten die UN-Experten Kritik an den Denkmälern von Leopold II. und anderer Personen aus der Kolonialzeit. Sie fordern das Land auf, sich seiner Vergangenheit zu stellen und diese aufzuarbeiten. Eine Forderung, die viele Kongolesen und Menschenrechtler seit Jahren vergeblich stellen - bis jetzt.

Der gewaltsame Tod des Afroamerikaner George Floyd in den USA hat auch in Belgien heftige Proteste ausgelöst. Dabei geht es nicht nur um strukturellen Rassismus, sondern eben auch um die Kolonialzeit. Die Politik hat reagiert.

Mitte Juni votierte das belgische Parlament für eine Expertenkommission, die die Gräueltaten des eigenen Herrschers aufarbeiten soll - zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Initiiert wurde das vom Fraktionsvorsitzenden der flämischen Liberalen, Patrick Dewael. Es reiche nicht, sich für die Vergangenheit zu entschuldigen, sagte Dewael laut der belgischen Nachrichtenagentur Belga. Nötig sei Wiedergutmachung.

Genau das will auch die zivilgesellschaftlich Organisation Lucha im Kongo. Junge Kongolesen wünschen sich nicht nur von der eigenen Staatsführung eine Veränderung. Sie wollen, dass Belgien zu seiner Historie steht und für die Verbrechen um Vergebung bittet. Außerdem müsse Belgien gestohlene Kunstwerke zurückgeben, sagt der 30-jährige Matumo.

Er will, dass der Kreislauf von Ausbeutung und Korruption gestoppt wird. Dafür sollte aus seiner Sicht die nächste Generation von Belgiern ihre Vergangenheit kennen: «Belgien muss den Mut haben, seinen Töchtern und Söhnen an Schulen und Universitäten die wahre Geschichte seiner Kolonialisierung im Kongo beizubringen.» Dafür hat sich vor kurzem auch Belgiens Bildungsministerin ausgesprochen. Die Kolonialgeschichte soll zukünftig ausführlich auf dem Lehrplan stehen. Das seien gute Nachrichten, sagt auch die Aktivistin von «Memoire Coloniale».