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Wie Deutschland durch die Ukraine-Krise schlingert Von Michael Fischer, Jörg Blank, Carsten Hoffmann und Can Merey, dpa

Es hat lange gedauert, bis Kanzler Scholz sich in der Ukraine-Krise positioniert hat. Kritik an seinem Kurs kommt nicht nur aus der Ukraine selbst, sondern auch von osteuropäischen Partnern. Und auch in den USA wird die Frage nach der Zuverlässigkeit Deutschlands gestellt.

Berlin (dpa) - Erstmals seit Beginn der Krise um den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze sitzen sie wieder an einem Tisch: Die Konfliktparteien Ukraine und Russland zusammen mit Deutschland und Frankreich. Es sind zwar nur die außenpolitischen Berater der Staats- und Regierungschefs, die am Mittwoch in Paris wieder direkte Gespräche aufgenommen haben - aber immerhin.

Die Runde wird Normandie-Format genannt nach dem Ort des ersten Treffens in dieser Konstellation in der nordfranzösischen Küstenregion Normandie kurz nach der Vereinnahmung der ukrainischen Krim durch Russland. Seitdem hat es unzählige dieser Gespräche auf allen möglichen Ebenen gegebenen, ohne dass je ein entscheidender Durchbruch zur Lösung des Konflikts erzielt worden wäre.

Trotzdem hat das Normandie-Format für die Bundesregierung große Bedeutung. Es ist der Ort, an dem Deutschland seine Rolle bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts auszuspielen versucht. In kaum einem Statement von Kanzler Olaf Scholz (SPD) oder Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zum Ukraine-Konflikt fehlt es. Das Problem: Seit die USA sich eingeschaltet haben und direkt mit Russland über die Krise sprechen, wird die Frage gestellt: Braucht man das jetzt wirklich noch?

«Ganzer Shop voller Gesprächsformate»

«Wir können es uns nicht leisten, Russland einen ganzen Shop voller Gesprächsformate anzubieten, und Moskau kann sich dann eins aussuchen», sagt zum Beispiel der polnische Vize-Außenminister Szymon Szynkowski vel Sek im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Polen sehe nur drei Formate, die von Bedeutung sind: Der bilaterale Dialog zwischen den USA und Russland, der Dialog der Nato mit Russland und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). «Das Normandie-Format zählt für uns nicht dazu. Welche Fragen kann man jetzt im Normandie-Format lösen, die dort seit Jahren nicht gelöst worden sind?» Das ist aber noch das geringste Problem, das Deutschland derzeit in der Ukraine-Krise hat. Die Kritik am deutschen Kurs gegenüber Russland wächst unter den Verbündeten vor allem im Osten der EU. Eine Kernfrage ist für sie: Wie verlässlich ist ein Land wie Deutschland im Ukraine-Konflikt, das Milliardengeschäfte mit Russland im Energiesektor macht? Und dessen letzter SPD-Kanzler Gerhard Schröder davon profitiert und ein treuer Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist? Dass der inzwischen zurückgetretene Marineinspekteur Kay-Achim Schönbach jüngst Verständnis für Putin geäußert hat, passte für viele nur zu gut ins Klischee der deutschen Russland-Versteher.

Lange Orientierungsphase des Kanzlers

Scholz hat sich für seine Orientierung in der Krise sehr viel Zeit genommen. Während Außenministerin Baerbock schon frühzeitig von «Härte und Dialog» gegenüber Staaten wie Russland gesprochen und Moskau mit einem «hohen Preis» bei einem Einmarsch in die Ukraine gedroht hat, nahm Scholz sich zunächst einmal zurück.

Statt klare Kante gegenüber Russland zu zeigen, riet er bei seiner EU-Gipfelpremiere Mitte Dezember davon ab, die Betriebserlaubnis für die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland mit den Bemühungen um eine Deeskalation in der Ukraine-Krise zu verknüpfen. Nord Stream 2 sei ein «privatwirtschaftliches Vorhaben» und der Genehmigungsprozess «ganz unpolitisch». Der Ukraine-Konflikt sei «eine andere Frage».

«Alle Optionen auf dem Tisch»

Danach dauerte es mehr als vier Wochen, bis Scholz sich neu positionierte und wie Baerbock Nord Stream 2 als Sanktionsinstrument für den Fall einer russischen Invasion auf den Tisch legte - allerdings nicht offen, sondern verdeckt. Bei einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte er vergangene Woche lediglich, «dass alles zu diskutieren ist, wenn es zu einer militärischen Intervention gegen die Ukraine kommt» - ohne den Namen der Pipeline in den Mund zu nehmen. Zuvor war er bei mehreren Gelegenheiten der Frage nach Nord Stream 2 ausgewichen.

Seitdem ist die Formulierung «alle Optionen auf dem Tisch» auch fester Bestandteil von SPD-Pressekonferenzen. Dass von echter Einigkeit der Sozialdemokraten in der Russland-Politik trotzdem nicht die Rede sein kann, wird jetzt erst einmal nur noch punktuell deutlich. Zum Beispiel wenn die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, offen für eine schnelle Inbetriebnahme von Nord Stream 2 wirbt.

Haubitzen mit hohem Symbolwert

Ein noch größeres Problem ist für die Bundesregierung aber die Frage der Waffenlieferungen. Auch da hat Scholz sich erst in der vergangenen Woche klar positioniert: Keine letalen, also tödlichen Waffen für die Ukraine. Dahinter steckt neben den deutschen Rüstungsexportrichtlinien auch der Anspruch, nicht zur Eskalation beizutragen und sich die Gesprächsfähigkeit mit Russland zu erhalten. In Kiew ist die Empörung darüber allerdings groß. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, spricht von «nicht nachvollziehbarer Verweigerung».

Die Bundesregierung versuchte das am Mittwoch zu beschwichtigen. Verteidigungsministerin Christina Lambrecht verkündete bei einer Sitzung des Verteidigungsausschusses, dass Deutschland nun 5000 militärische Schutzhelme liefere. Die sei ein «ganz deutliches Signal: Wir stehen an Eurer Seite.» Bei den Ukrainern kam das allerdings nicht so an. Melnyk sprach von einer «reinen Symbolgeste». «Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein», sagt er der Deutschen Presse-Agentur. «Die Ukraine erwartet eine 180-Grad-Kehrtwende der Bundesregierung, einen wahren Paradigmenwechsel.»

Diesen wird es wohl nicht geben. Es ist sogar fraglich, ob die Bundesregierung dem Nato-Partner Estland eine Weitergabe von Haubitzen aus DDR-Altbeständen an die Ukraine erlaubt. Die Bundesregierung steckt in der Zwickmühle. Sagt sie ja, weicht sie faktisch von ihrem Prinzip ab, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Denn es sind immer noch Waffen aus Deutschland, auch wenn sie über Umwege in die Ukraine gelangen. Sagt sie nein, zieht sie den Zorn der östlichen Bündnispartner auf sich und steht für sie dann nicht nur als Verweigerer, sondern auch als Blockierer von Militärhilfe für die Ukraine da. Es ist das, was man eine Lose-Lose-Situation nennt: Man kann nur verlieren.

«Germany homealone?» - Deutschland allein zuhause?

Für den Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, gibt Deutschland in der Ukraine-Krise ein verheerendes Bild ab. «Wie vielen in Berlin ist eigentlich bewusst, wie massiv unsere konfus wirkende Ukrainepolitik nicht nur D, sondern der gesamten EU schadet», twitterte der frühere Top-Diplomat diese Woche. «Unsere östlichen Partner klammern sich immer stärker an USA/Nato, die Glaubwürdigkeit der EU leidet Schaden. Germany home alone?»

Deutschland allein zuhause? Der polnische Vizeaußenminister Szynkowski vel Sek analysiert die Lage ähnlich wie Ischinger. «In Polen und in anderen osteuropäischen Ländern fragen sich viele, welches Spiel Deutschland im Ukraine-Konflikt eigentlich spielt.» Polen erwarte «starke Worte und starke Taten der deutschen Regierung und nicht eine Vernebelung der Tatsachen».

«Ist Deutschland ein verlässlicher amerikanischer Verbündeter?»

Auch in den USA gibt es Zweifel daran, ob man in der Ukraine-Krise mit Deutschland rechnen kann. Präsident Joe Biden steht bislang zwar fest zu Berlin, seine Sprecherin Jen Psaki nennt Deutschland «einen unserer engsten Verbündeten». Je stärker der Konflikt allerdings eskaliert, desto mehr sieht sich die US-Regierung kritischen Fragen von Journalisten nach der Rolle der Bundesrepublik in der Krise ausgesetzt.

Die klare Erwartung ist in Washington, dass ein russischer Einmarsch in die Ukraine das Aus für Nord Stream 2 bedeuten muss. Nicht nur das konservative «Wall Street Journal» hält die Bundesregierung in diesem und in anderen Punkten allerdings für einen unsicheren Kantonisten. Deutschland «stellt russische Interessen über die des Westens», kommentierte die US-Zeitung unter der Überschrift «Ist Deutschland ein verlässlicher amerikanischer Verbündeter?». Die Antwort auf diese Frage lieferte das Blatt gleich dazu, und zwar auf Deutsch: «Nein».

Scholz wird bei seinem für Februar angekündigten Antrittsbesuch in Washington die Gelegenheit haben, das Bild von Deutschland in der Ukraine-Krise geradezurücken. Mit Putin hat er - soweit es öffentlich überliefert ist - bisher nur kurz nach seinem Amtsantritt telefoniert.